Sonntagsblatt 1/2019 | Page 16

Deutschtum in Westungarn: ohne Bürgertum keine Identität Die mit dem Thema vertrauten Autoren sind sich darin einig, dass das Westungarndeutschtum (also die Heanzen und die Heide- bauern) im Gegensatz zu anderen deutschen Volksgruppen in Ungarn ein Bauernvolk blieb. Bereits im Mittelalter verfügten die Siebenbürger Sachsen über ihre „Universitas”, die Zipser hatten schon vor 700 Jahren eine „Zipser Willkühr”, während die West- lichen solche gemeinsame historische Entwicklung nicht mitma- chen konnten. Diese fortgeschrittene gesellschaftliche Entwick- lung zeigte sich später in Gestalt der starken Bürgerschaften im Kreise der einzelnen deutschen Volksgruppen. Nicht nur die Sie- benbürger oder die Zipser Sachsen, sondern auch die Batschka- er-Banater Donauschwaben verfügten im 19. Jahrhundert über ein eigenes Bürgertum, das eigentlich der größte Motor der im Jahre 1904 gegründeten Ungarndeutschen Volkspartei war. Die Städte und die dort ansässigen bürgerlichen Schichten sind für die Ausbildung der Intelligenz „zuständig” und durch diese Aka- demikerschicht wird eine Volksgruppe unter eine möglichst ge- meinsame Identität und ein entsprechendes Selbstbild geordnet. Unseren Heanzen und Heidebauern war die bereits erwähnte städtische Struktur keinesfalls fremd, die in Siebenbürgen oder in Oberungarn vorhanden war. Die Stadt Güns betrachtete man als die „Hauptstadt des Heanzentums”, Ödenburg ebenfalls, aber diese Städte konnten keine absolute geistige Primärrolle inner- halb der bäuerlichen Bevölkerung einnehmen, da die klassische Assimilation des deutschen Bürgertums eine Grenze zwischen den Dörfern und den Städten zog. Alldeutsche Versuche für die Westungarndeutschen In Deutsch-Westungarn waren Anhänger der großdeutschen Schönerianer Bewegung die ersten Erwecker in den letzten Jah- ren des 19. Jahrhunderts. Der Sankt-Gottharder Landwirt Karl Wollinger und der Neusiedler Apotheker Adalbert Wolf versuch- ten die Bevölkerung - mit Hilfe der österreichischen Deutschna- tionalen - für die „deutsche Sache” zu mobilisieren. Diese ersten Schritte verkörperten sich in Gründungen von deutschen Kul- turvereinen und Bibliotheken, und auch der Eisenburger Volks- bildungsverein wurde ins Leben gerufen. Ein wichtiger Sam- melplatz für die westungarischen deutschgesinnten Studenten und Intellektuellen war der Wiener „Verein zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn”, in dem unter anderen der berühm- te heanzische Dichter, Josef Reichl, und der alldeutsche Alfred Walheim mitwirkten. Der Wollinger-Kreis schloss sich 1907 der frisch gegründeten UDVP (Ungarländische Deutsche Volkspar- tei) an. Karl Wollinger leitete die westungarischen Flügel der Par- tei, allerdings aus ihrer Sicht mit wenig Erfolg: Die UDVP blieb von Anfang an treu zum ungarischen Staatsgedanken, aber die österreichfreundlichen Stimmen meldeten sich in der Bewegung der Westungarndeutschen immer häufiger. Die Anfangsphase des Ersten Weltkriegs verging mit fieberhaften Presseaktivitäten rund um die „Heinzenland-Burgenlandfrage”. Am Scheideweg: Autonomie in Ungarn oder Deutsch-Öster- reich? Im Oktober 1918 zerbrach die österreichisch-ungarische Hälf- te der italienischen Front, und die Monarchie unterzeichnete Anfang November in Padua den Waffenstillstand mit Italien. In Budapest führten die Ereignisse zur sogenannten Asternrevo- lution, und die Fraktionsbildung begann natürlich auch im Krei- se der Elite der Deutschen in Ungarn. Jakob Bleyer vertrat den madjaronen Standpunkt samt kultureller Autonomie und Staats- treue, der sächsische Rudolf Brandsch vertrat die Gegenposition (siehe Mediascher Anschlusserklärung 1919). Wie das ganze Ungarndeutschtum, so stellten sich die Westungarndeutschen ihre politische Zukunft unterschiedlich vor. In den unstabilen Oktobertagen setzte sich Wollinger für das freie Selbstbestim- mungsrecht der westungarischen Bevölkerung erneut ein, was bei ihm eindeutig die Anschlusslösung bedeutete. So formulierte die von Wollinger gegründete Zeitung „Deutsche Freiheit”, die 16 Parteizeitung der Deutschen Freiheitspartei: „Es gibt keinen ös- terreichischen Kaiser und ungarischen König mehr. Geblieben ist das Volk. Soll es von fremden Völkern, von fremden Beamten, die mit uns nicht fühlen und denken, weiter beherrscht werden? Wir Deutsche sind kein Sklavenvolk, sondern ebenso frei wie die anderen Völker…” In dieser Atmosphäre, aber zuerst nicht anschlussorientiert, kam die westungarndeutsche Autonomiebewegung zustande, die die allgemeine Unterstützung der Bevölkerung genoss. Da- rüber hinaus wurde am 10. November der „Deutsche Volksrat” in Mattersdorf (heute Mattersburg) unter Mitwirkung mehrerer deutscher Vereinigungen gegründet. Dieses Ereignis ist auch als Geburtsstunde Deutsch-Westungarns / des Burgenlandes als politische Entität zu betrachten. Die Akteure der Bewegung trachteten zuerst nach einem Kompromiss mit Budapest, um die kulturell-territoriale Autonomie für Deutsch-Westungarn durchzu- setzen, aber die ungarische Partei war misstrauisch gegenüber der Autonomiebewegung. Dazu kommt auch die Tatsache, dass in diesen Tagen die politische Lage in Budapest alles andere als übersichtlich war. Die anfängliche Begeisterung für Ungarn sei- tens der Westungarndeutschen gab nach und die Führung stellte ein Ultimatum an die Regierung: Sie gewährt Autonomie oder die Deutschen werden einen eigenen Staat ausrufen. Obzwar Buda- pest ein neues Autonomiegesetz verabschiedete, wurden darin die Ziele der Autonomiebewegung aber noch nicht berücksich- tigt, deswegen wurde das Gesetz unter der Führung von Wol- linger abgelehnt. Danach eskalierte die Lage in Deutsch-West- ungarn immer mehr. Ein ungarndeutscher „Staat” wird geboren Die gescheiterte territoriale Autonomie brachte Enttäuschung für die deutsche Bevölkerung und die allgemeine Stimmung richtete sich gegen Ungarn und ungarische Beamte. In den in der Nähe von St. Gotthard liegenden Dörfern wurden Protestveranstal- tungen abgehalten, auf denen die Teilnehmer ihr Selbstbestim- mungsrecht und eine zukünftige Trennung von Ungarn forderten. Im Dezember trat eine neue Persönlichkeit in den Wirbelwind der Geschichte ein: Der Mattersdorfer Sozialdemokrat Hans Su- chard erlebte die revolutionären Tage sowie die Proklamation der Republik Deutsch-Österreich in Wien. Suchard, der verwundete Kriegsveteran, der sich ein österreichisches Deutsch-Westun- garn wünschte, war mit den Wiener Sozialdemokraten gut ver- netzt, die viele Waffenlager in ihrer Hand hielten. Sein Interesse traf auch den Willen der österreichischen Regierung; also einer militärischen Annexion sollte nichts im Wege stehen. Suchard konnte in den österreichischen Kasernen Milizionäre rekrutieren, mit denen er in Westungarn einmarschierte, noch dazu wurde ein größeres Waffenarsenal an der österreichisch-ungarischen Grenze für sie bereitgestellt. Im Dorf Mattersdorf hielten die Auto- nomiebefürworter und die Anschluss-Unterstützer am 6. Dezem- ber eine improvisierte Versammlung ab, aber letztendlich wurde das Drehbuch der Separatisten von Suchard geschrieben. Noch am selben Tag rief Suchard - sich beziehend auf das Wil- son’sche Selbstbestimmungsrecht der Völker - „das freie deut- sche Heinzenland” aus. Es war eigentlich eine provisorische Lösung von ihm: „Bei Ungarn wolln ma net bleiben. Nach Öster- reich lasst ma uns net. Na, dann ham ma halt a eigene Republik gmacht“, wie er später erklärte. Die Republik Heinzenland sollte solange existieren, bis Österreich selbst das Land annektiert. Zur Republik gehörten theoretisch alle deutschsprachigen Ortschaf- ten Westungarns. Die Mattersdorfer stellten eine sogenannte „Volkswehr” auf, wel- che nur 300 Männer zählte - eine Rekrutierung unter der dortigen deutschen Bevölkerung war auch nicht möglich, weil die Dörfer über das Vorhaben der Separatisten nicht informiert wurden. Die fehlende Munition erschwerte die militärische Situation Suchards SoNNTAGSBLATT