Sonntagsblatt 1/2018 | Page 16

praktischen Leben gestoßen haben . Als Inhaber eines Universitätslehrstuhles für Germanistik ließ sich diese Balance gerade noch halten , in den Realbereichen dörflicher Provinzen wurde dies mehr und mehr unmöglich . Da gab es einmal die zwei sich widersprechenden Geschichtsbilder , mit denen wir Jungen von damals konfrontiert wurden . Unsere madjarischen Vorfahren kamen aus Asien unsere Vorfahren kamen aus Hessen-Darmstadt oder - um mit Bleyer zu sprechen » vom Rhein und Schwarzwald «.
Ich selbst erhielt mehr völkische oder » volkssoziale « Anstöße aus den grünen Bänden des Gustav-Adolf-Werkes oder des St . Rafael-Vereins , auch des VDA , als etwa von der NSDAP , die ja nur das stark verengte Pokrustesbett für eine um vieles breiter angelegte Bewegung gewesen ist . Vor allem die volkstumserhaltenden Impulse und volkstumserneuernden Motive griffen auf alle auslanddeutschen Volksgruppen über , und wir Jungen kamen selbstverständlich auch in diesen Sog und somit in einen fast unüberbrückbaren Gegensatz zu den Anforderungen des ungarischen Staates , der immer weniger » ungarländisch «, aber dafür von Jahr zu Jahr mehr rassistisch-madjarisch wurde . Staatstreu und volkstreu kann sein , wenn es einem nicht unnötig erschwert wird und wenn man beiden Treueverhältnissen Rechnung trägt . Madjarisch jedoch und deutsch in einem kann man nicht sein , und so hatten wir ein Doppelleben zu führen , das seitens der Levente-Organisation und der Honvéd die madjarischen Anforderungen aktivierte . Und dies abwechselnd mit Zuckerbrot und Peitsche , wobei der » Peitschen-Anteil “ von Jahr zu Jahr mehr überhandnahm . Im Gegenteil dazu dann die Sehnsucht bei den Besten unserer schwäbischen Jugend , den » dummen Schwob « abzustreifen und zu einem bewussten und gebildeten Deutschen zu werden , den sympathischen Deutschen , die man in der Zeit schon häufiger traf , immer ähnlicher zu werden . In dieser Richtung hatten wir ja auch einen enormen Nachholbedarf . Manchmal begaben wir uns im Geiste an das Grab Bleyers , um ihm vorzuhalten , dass er uns mit seiner » Harmonielehre « und seinem » Mit Deutschem Herzen , treuer Schwabenhand , stehn fest zu Dir für alle Zeit « - Theorie eigentlich ein falsches Märchen erzählt hat oder damit in das falsche Jahrhundert geraten sei . Ein anderes Bleyer-Zitat wurde uns damals wesentlich verständlicher : » denn wenn der ungarische Staatsgedanke mit dem ungarischen Rassegedanken identifiziert wird oder an die Stelle des ungarischen Staatsgedankens ( St . Stephans-Idee ) gestellt wird — so können wird nicht zentripetal sein , weil wir unser Deutschtum nicht verleugnen können , weil wir unser Deutschtum weder als Sünde noch als Schande empfinden .« ( Deklaration Bleyers im Ung . Parlament Mai 1933 ) Die Treue mit » deutschem Herzen « war nun nicht mehr gefragt , wurde auch madjarischerseits als unzureichend , ja als Verrat angeprangert . Stattdessen wollte man uns dieses » deutsche Herz « herausoperieren , um ein madjarisches dafür einsetzen . Gerade diese seelische Verstümmelung aber fürchteten wir . Wir hatten auch keine » zwei Seelen « mehr in unserer Brust , sondern nur mehr eine , und ihr folgten wir mehr als damaligen » Seelenverkäufern «.
Die in den dreißiger Jahren oft beschworene » Harmonie « zwischen Deutschtum und Madjarentum , die Bleyer angeblich störe , haben doch wohl eher diejenigen zerstört , die unredlich mit diesem Begriff umgingen und ihn eigentlich als Opium für unser Volk einsetzen .
Eine Vorstufe für die im übertragenen Sinne eingeplante Herz-Transplantation . Das alte » Harmonie-Verhältnis « ist uns damals zerbrochen , und diejenigen , die das Erbe und Vermächtnis Bleyers hüten und bewahren wollten , gerieten in eine tragische Vereinsamung zwischen Vater- und Mutterland . Man kann sich nicht mehr in einem Hause wohlfühlen und sich mit ihm identifizieren , wenn man tagtäglich hört , dass es vor dem Abbruch steht , dass man aber in dem Reißbrett-Entwurf des neuen Gebäudes , welches an seine Stelle treten soll , nicht mehr in der gewohnten und angeborenen Gestalt eingeplant ist . Wir sollten
16 eben als ungarländische Deutsche sterben , um als waschechte » Wurzel-Madjaren « wieder geboren werden zu können . Dies jedoch konnten wir nicht mehr , und wir wollten es auch nicht mehr .
So wurde die frühere Vatergestalt Bleyers mehr und mehr zu einer rührenden » Großvatergestalt «, die die Enkel allein ließ . Der späte Jakob Bleyer aber wuchs in unseren Augen zum tragischen Helden , der unsere eigene Tragik schon im Vorhinein durchlitten hat und uns visionär unser späteres Schicksal vorlebte . So wie der Bleyer , der die Mai-Deklaration unter tumultuarischen Begleitumständen vortrug , nicht mehr » zentripetal « sein konnte , so konnten wir es einige Jahre später noch viel weniger . Wir fühlten uns ausgestoßen aus dem alten Ungarnland und suchten nach dem Mutterland . Die Jüngsten unter uns verstanden damals nicht einmal den Zwiespalt in den Seelen ihrer Jugendführer . Sie waren den neuen Ufern schon näher und wir folgten ihnen darin , wenn auch mit gelegentlichen Rückblicken zum Grabe Bleyers . Sein letztes Aufseufzen gab uns wohl das Geleit zu den neuen Ufern , von welchen hier gesprochen wurde . » Was jetzt im Leben des Deutschtums (= Gesamtdeutschtum ) vor sich geht , das ist entweder unsere endgültige Rettung oder unser endgültiger Untergang .« Der Urheimat Stein , der Bleyers letzte Ruhestätte schützen sollte , konnte dies nicht . Aber diese Urheimat gab uns in einer ihrer dunkelsten Stunden Geborgenheit , dann auch Heimat und schließlich auch Vaterland . Wir Jüngeren und die Jüngsten waren dafür eigentlich weit mehr disponiert , als wir es für die später in Ungarn erfolgten Demütigungen gewesen wären . Die charakterlichen Haltungsschäden , die man schon vor Kriegsende bei einer geforderten Assimilation fürchten musste , die hätten wir nach 1945 nicht verkraftet . So nahmen wir - wie der schlesische Dichter Jochen Hofbauer sagte - eines Tages unser Bündel und » zogen jenseits des gläsernen Berges « und unsere Jahre zersprangen nicht .
Nachforschungen 70 Jahre danach : Massenmord im Pilisch-Gebirge
( ung . Originaltitel : Pótnyomozás 70 év után : tömeggyilkosság a Pilisben )
Artikel von Ádám Kolozsi , erschienen auf dem Internetportal index . hu am 17 . 08 . 2017 , deutsche Übersetzung : Richard Guth . Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autoren Ádám Kolozsi . ( Teil 2 )
Es war nicht so
„ Es wurden fünf Kinder niedergemetzelt . Wir hatten zu Hause noch die zerfaltete Zeitung . Man sagte uns , es sei ein Deutscher gewesen , aber wir hörten es anders . Man erzählte , dass das irgendein Russe war . Er wurde im Krieg verrückt und dann mordete er ”, sagt man in der Kneipe von Senváclav beim Billiardspielen - es scheint , als wäre es hier seit Jahrzehnten evident . In der Kneipe sprach vor siebzig Jahren jeder slowakisch , heute nur noch die Älteren unter sich . Damals trank man seinen selbstangebauten Wein und das Dorf hieß Senváclav . Das slowakische Ortsschild steht immer noch , so bewahrt er die Namen gleich zweier heiliger Könige – zumal man sich ab 1700 auf den Besitzungen der Pauliner niederließ .
„ Wir mögen es nicht so , wenn ein Fremder sagt , dass friedfertige Slowaken , obwohl die Slowaken in der Tat friedfertige Menschen waren . Es gab hier nie Gegensätze zwischen den Nationalitäten , nur der Grundschullehrer schlug in der Pause zu , wenn wir auf dem Schulhof slowakisch sprachen . Heutzutage interessiert die Geschichte keinen mehr , aber vom Tod der fünf Kinder hat jeder gehört .” sonntagsblatt