Sonntagsblatt 1/2015 | Page 16

sb15-1 : sb14-2 . qxd 2015.02.12 . 8:44 Oldal 16
Schnell wurde in den Häusern alles Wichtige , vor allem Schlaf- Möbel und Lebensmittel zusammengepackt und auf Bauernwa - gen geladen , Haus und Hof abgeschlossen und die Fahrt nach Bu - dapest aufgenommen . Bei uns übernahmen diese Arbeit Groß - vater , Vater und Onkel mit zwei Pferden und zwei „ Eis wagen ”.
Eine lange Kette von Pferdefuhrwerken bewegte sich aus unserer Gemeinde in Richtung Hauptstadt , denn aus unserem Dorfe mussten etwa 1800 Bewohner eine Unterkunft in der Großstadt finden . Dieser Weg war für unsere Menschen eine der größten Prüfungen in ihrer bis dahin 200-jährigen Geschichte in Ungarn . Vor allem die absolute Ungewissheit machten unseren meist einfachen Menschen viel zu schaffen . Ungewiss war zunächst , wo man in der Stadt unterkommen würde . Ungewiss war die Zeit , wie lange diese Phase wohl andauern würde . Vor allem der Ausgang der Kesselschlacht um Budapest und das „ Danach ” bewegte die Menschen . Manche hatten aus eigener Anschauung in der Sowjetunion erlebt , was Krieg bedeutet , und sie ahnten , was wohl passieren würde , wenn die „ Rote Armee ” die Stadt erobern würde . Nie - mand glaubte hier noch an den im „ Deutschen Reich ” immer noch propagierten „ Endsieg ”.
In dieser gespannten Situation machten wir uns mit den Groß - eltern auf den Weg nach Budapest . Großmutter hatte in der Franzstadt in der Nähe des „ Boráros tér ” einige gute Kunden , die sie seit Jahren mit Kühleis belieferte . So fanden auch wir , Vater , Mutter und ich in der Ipar utca ein kleines leeres Zimmer , in dem wir unsere Habe verstauen konnten .
Die Wohnung gehörte einem Honvéd-Offizier , welcher noch im Krieg war . Seine Frau hatte die Möbel in zwei Räumen der Woh - nung zusammengestapelt , bevor sie sich mit ihrem Kind zu Ver - wandten in die Provinz absetzte . Dadurch war „ unser ” Zim mer frei geworden . Es befand sich in einem typischen vierstöckigen Budapester Mietshaus mit Blick in den von Balkonen ( Ga lerien ) umgebenen Innenhof .
Großvater S . mit Großmutter , meiner Tante und meinem halbjährigen Cousin Anton konnten in der Nähe eine Kellerwohnung beziehen . Auch das noch verbliebene Pferd Großvaters , „ Bandi ”, konnte in der Nähe untergebracht werden und wurde dort von Großvater versorgt . Meine W . -Großeltern waren auch in unserer Nähe notdürftig untergekommen . Auch hier musste vorerst ein Pferd betreut werden .
Mein Vater wurde von dieser Notwohnung aus zu einer militärischen Einheit in der Nähe unseres jetzigen Stadtbezirkes eingezogen . Er konnte aber nach dem jeweiligen Dienstschluss bei uns in der Wohnung sein und auch übernachten . Morgens oder abends musste er sich jeweils bei seiner Dienststelle melden und seinen Dienst antreten . Dieser bestand in erster Linie aus Sicherungs - aufgaben , Aufräumungsarbeiten und Hilfsleistungen für die Zivilbevölkerung ; es war also kein Dienst bei einer Kampf einheit .
Organisierte Hilfe und Ordnungsaufgaben im Chaos der „ Flucht burg ” Budapest waren wesentliche Aspekte , um das Leben in der Stadt doch noch einigermaßen steuern zu können . Die Sowjets hatten die Lufthoheit über der Stadt erlangt und bombardierten bzw . beschossen die Stadt pausenlos . Die Front mit den direkten Kampflinien befand sich jedoch noch außerhalb der Stadt . An der Peripherie wurde fieberhalft versucht , den Be - festigungsgürtel zu verstärken . Kurz vor unserer Evakuierung beo bachtete ich noch selbst das Ausheben von tiefen Panzer- Sperr-Gräben in der Nähe unseres Elternhauses im Süden Scho - rokschars .
Die Luft in der Stadt war erfüllt von Geschützdonner , Bom - bendetonationen und Maschinengewehr- und Granatwerfer feuer . Einmotorige MIG ’ s lärmten im Tiefflug über der Stadt .
Für mich waren diese ungewohnten Eindrücke einerseits beängstigend andererseits aber auch in einer gewissen Weise faszinierend , war mir doch die Gefährlichkeit diese Szenariums nicht wirklich bewusst , und ich wunderte mich oft über die verängstigten Erwachsenen , die sich laufend auf dem Wege in die Keller oder aus den Kellern befanden . Dies geschah täglich mehrfach . An den Fliegeralarm ( riadó ) hatte ich mich schon gewöhnt . Immer , wenn er gegeben wurde , ging ’ s mit Mutter in den großen Hauskeller .
Aber nicht nur die Sowjets waren über der Stadt . Vor allem die „ Royal Airforce ” flog aus Richtung Südosten mit ihren Bom ber - geschwadern die Stadt an und lud ihre tödlichen Frachten ab . Ganze Straßenzüge wurden so Opfer der Zerstörung . Erinnern kann ich mich auch noch an die gewaltigen Brände , die nach den Angriffen in der Stadt wüteten .
Von unserem Zimmer im obersten Stockwerk beobachtete ich immer wieder das „ Schauspiel ” in der näheren Umgebung . Wurde es aber besonders gefährlich kam Mutter mit dem „ Notgepäck ” und wir suchten schleunigst Schutz im Keller . Vater , wenn er frei hatte , ging da nie mit , denn so hatte er es bereits in Schorokschar in den letzten Tagen vor der Evakuierung gehalten , denn er hielt nichts von der Schutzfunktion eines Kellers !! Vor allem meine Großeltern , seine Schwiegereltern , konnten dies nicht verstehen und bekamen in solchen Situationen immer Streit mit meinem Vater .
Er hatte natürlich seine Gründe für sein Verhalten . Besonders betonte er dabei immer das mögliche Problem der Verschüttung . Im Übrigen erklärte er , dass er in seinen vier Einsätzen in der Ukraine ganz andere Dinge erlebt habe , so dass er dem Tode ins Auge blicken könne ! Als Honvéd-Soldat war er im Mittelabschnitt zwischen Kiew und Charkow hauptsächlich zur Partisanenbekämpfung im Ein - satz . In seinen Erzählungen aus den Wäldern um Neshin und Pri - luki war immer die absolute Unsicherheit und Gefahr spürbar , die beim Kampfe gegen einen unbekannten und vor allem oft unsichtbaren Gegner permanent vorhanden war . Hier musste er auch erleben , dass einige Kameraden aus seiner Einheit , darunter auch ein junger Bursche aus unserem Ort , den Tod fanden . So erschien ihm seine neue Rolle als „ Ordnungs- und Sicher - heitspolizist ”, wie er sich nicht ohne Ironie nannte , nicht allzu gefährlich . Im Nachhinein glaube ich auch , dass ein gewisser Leichtsinn bei seiner schweren Verwundung eine Rolle spielte , obwohl er dies zeitlebens nie zugeben mochte . Was war also damals um Weihnachten 1944 mit ihm passiert ? An jenem Morgen machte er sich wie immer auf den Weg zu seiner Meldestelle , die sich auf dem Franzenring ( Ferenc-körút ) befand . Von unserem „ Zimmer ” waren dies etwa 1000 Meter .
Die Stadt lag an diesem Morgen unter starkem Granatwerfer - feuer , war doch die „ Rote Armee ” auf dem Vormarsch in das Stadtzentrum . Die verteidigenden Truppen , Deutsche und Un - garn , mussten Straßenzug um Straßenzug aufgeben . Die Vororte , darunter auch Schorokschar , waren bereits von der Sowjetarmee erobert und besetzt .
Vater kam nicht bis zu seinem Meldeort , seiner Dienststelle . Als er von einer Seitenstraße in die große Ringstraße einbiegen wollte , traf ihn eine Granat-splitter unterhalb seines rechten Ohrs und trat durch das rechte Auge wieder aus seinem Kopf . Passanten brachten den Schwerverletzten in den nahe gelegenen Keller eines Museums auf der Üllôi út , in dem ein Notlazarett eingerichtet war . Hier wurde er zunächst notdürftig versorgt .
Obwohl wir nur rund einen Kilometer von diesem Notlazarett wohnten , wussten wir zwei volle Tage nichts von seinem Schicksal . Meine Mutter und die beiden Großelternpaare waren sehr be - stürzt über das Verschwinden meines Vaters und rechneten bereit mit dem Schlimmsten . Besonders dramatisch wurde die Lage dadurch , weil die „ Rote Armee ” im Begriffe war , die gesamte
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