Sonntagsblatt 1/2015 | Page 18

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Vor 140 Jahren geboren

GUSTAV GRATZ( 1875 – 1946)

Gustav Gratz erklärte am 22. Januar 1939 in dem Budapester Blatt „ Pesti Napló”, er gehöre zu jenen Bürgern Ungarns, die zwar nicht madjarischer Abstammung, jedoch mit dem Madjarentum voll und ganz verschmolzen sind. Er entstammte einer deutschevangelischen Pfarrerfamilie und wurde in der deutschen Stadt Göllnitz in der Zips 1875 geboren. In den ersten Jahren seiner Laufbahn war er Abgeordneter des siebenbürgisch-sächsischen Wahlkreises Leschkirch bei Hermannstadt geworden und als solcher hatte er gegen das Apponyische Schulgesetz vom Jahre 1907 wegen dessen Madjarisierungs-tendenz mutig Stellung genommen. Trotzdem gelangte auch er alsbald ins madjarische Fahr- wasser und wurde das zuverlässigste Werkzeug der ungarischen Regierungen im Dienste der Niederhaltung seiner eigenen Volksgenossen in ihrem volklichen Abwehrkampf. Er war ein Musterbeispiel des Aufstiegsassimilanten, an dessen Wirken man den Verlauf der allmählichen Angleichung an das Staatsvolk deutlich verfolgen kann. Wie bei vielen anderen bedeutete auch bei ihm die Assimilation nicht den Verlust der deutschen Sprache und der deutschen Kultur, es trat vielmehr ein geistiger Standortwech- sel bei ihm ein. Es bildete sich ein neuer Mittelpunkt seines geistigen Lebens, Gleichgültigkeit und zuletzt sogar Feindseligkeit gegenüber dem Schicksal und den Bestrebungen seiner eigenen Landsleute waren die nächsten Entwicklungsstufen. Wie alle Assimilanten es taten, verkündete auch er die „ deutsche Gefahr”, die den Madjaren von seitens des Deutschtums ständig drohe, unabhängig von Weltanschauung und Regime, die gerade im Deutschen Reiche maßgeblich seien. Seit 1924, besonders aber seit 1933, seit dem Tode Jakob Bleyers, machte er im Auftrage der unga- rischen Regierungen die Bahn zur völligen Entnationalisie rung des ungarländischen Deutschtums frei.
Die Mittelschule hatte Gustav Gratz in Iglau, Neusohl und Klau senburg absolviert, an den Universitäten zu Klausenburg und Budapest die Rechtswissenschaften studiert und sich den Dok- tortitel erworben. Hauptamtlich betätigte er sich als Journalist und wurde 1906 der ungarländische Redakteur der Wiener „ Neuen Freien Presse”. Auch veröffentlichte er in ungarischer Spra che mehrere bedeutende Werke(„ Verfassungspolitik”, 1900; „ Das Leben Kálmán Tiszas”, 1902; „ Internationales Recht”, 1900). Im Jahre 1913 wurde er geschäftsführender Direktor des Landesverbandes der Ungarischen Fabrikindustriellen und nach Ausbruch des Weltkrieges Präsident mehrerer Kriegszentralen und führendes Mitglied des deutsch – österreichisch – ungarischen Wirtschaftsverbandes.
Im Juli 1917 wurde er Ungarns Finanzminister. trat jedoch bald von diesem Posten zurück, wurde Geheimrat und übernahm die Leitung der Wirtschaftsabteilung im gemeinsamen Außenminis- terium in Wien, Zahlreiche hohe Auszeichnungen wurden ihm zuteil in Anerkennung seiner Verdienste auf dem Gebiete der Wirtschaft und des Finanzwesens. Nach dem Sturz des ersten kommunistischen Regimes im Jahre 1919 wurde er Ungarns Ge- sandter in Wien, im Jahre 1921 Außenminister der Regierung Te- le ki, dankte aber beim ersten Rückkehrversuch König Karls zu Ostern 1921 ab und führte dann jene Verhandlungen, die dessen Rückkehr auf den Thron sichern sollten. Bei der zweiten Rückkehr des Königs im Oktober 1921 wurde er zusammen mit anderen führenden Legitimisten verhaftet und erst nach zehnwöchiger Untersuchungshaft freigelassen. Später wurde auch die Anklageverfolgung aufgehoben.
Von der aktiven Politik zog er sich nun zurück, doch hielt er in verschiedenen Kongressen im Ausland in deutscher, englischer und französischer Sprache über Ungarns politische und wirtschaftliche Probleme mehrere Vorträge, vertrat die ungarischen Wirtschaftsinteressen in der Internationalen Handelskammer und war auch Mitglied des Exekutivkomitees sowie Führer der ungarischen Kongreßteilnehmer dieser Handelskammer. Gratz betätigte sich auch praktisch auf wirtschaftlichem Gebiet: Er war Vor- sitzender der Ungarischen Waggon- und Maschinenfabrik A. G. in Raab, Direktionsrat der Ungarischen Gummiwarenfabrik A. G. und Geschäftsführer der Emerge- und Revere-Faden-Ge- sellschaft, Vizepräsident der Raaber Spiritusbrennerei und Raffinerie A. G., Präsident der Ungarischen Stahlwarenfabrik A. G., der Ungarisch – Rumänischen Handelskammer usw. In der Kommission für Internationales Recht innerhalb der interparlamentarischen Union vertrat er öfter und mit großem Erfolg den ungarischen Standpunkt. In Anerkennung seiner Verdienste wur- de er auf Lebenszeit zum Mitglied dieser Institution gewählt.
Diesen Geschäftsmann, der Ungarns Interessen so erfolgreich ver- tre ten, aber jeden Kontakt mit dem deutschen Volkstum längst verloren hatte, stellte der Wunsch des Ministerpräsidenten Grafen Beth- len an die Spitze des von Jakob Bleyer 1924 gegründeten Volksbil- dungsvereins, um Bleyer zu überwachen und die Tätigkeit des Vereins mit den Forderungen der legendären ungarischen( rechte: madja- rischen) Staats-Idee in Einklang zu bringen. In einer Zeit, da Jakob Bleyer sein erschütterndes „ Klagelied” über die riesenhafte Walze nie- derschrieb, die das Volkstum der ungarndeutschen Jugend schier zermalmte, zumindest einen gewaltigen Rückgang dieser Volksgruppe zur Folge hatte( 1932), meinte Gratz, der Bestand des ungarländi- schen Deutschtums werde dadurch, dass man ihm keine deutsche Schule, keinen deutschen Gottesdienst gebe, durchaus nicht gefähr- det, darüber hinaus aber sei diesbezüglich in Ungarn ohnehin alles in Ordnung. Während Gratz zu Bleyers Lebzeiten, also bis 1933, im Hin- tergrund blieb, sich sogar als Vermittler zwischen ihm und den chauvinistischen Behörden gewisse Verdienste erwarb, übernahm er nach Bleyers Tod im Auftrage des Ministerpräsidenten Gömbös als höchster Sachwalter die Leitung der Angelegenheiten der Volksgruppe. Sein Auftraggeber hatte keinerlei Verständnis für die Frage der deutschen Minderheit, ihm waren nur jene sympathisch, die bereit waren, sich zu assimilieren. Als persönlicher Freund Hitlers konnte Gömbös seinen Standpunkt in Berlin leicht durchsetzen, denn Hitler, obschon er sich als Beschützer der Auslanddeutschen ausgab, benötigte aus außenpolitischen Rück- sichten die Unterstützung Ungarns. Im Dienste der ungarischen Re gie rung verdrängte Gratz alsbald die Träger der deutschen Be- wegung aus dem Volksbildungsverein, entriss auch Bleyers Erben das „ Sonntagsblatt” und brachte im Einvernehmen mit der Regierung eine neue Schulregelung, die auch die letzten Reste des deutsch- sprachigen Unterrichts in den Volksschulen beseitigte. Mit höchstem gesellschaftlichem und behördlichem Druck wurde in den Jahren nach 1930 die Namensmadjarisierungsaktion betrieben: Gustav Gratz als Sachwalter der Volksgruppe verkündete, der Eintausch des deutschen Namens auf einen ungarischen oder die Beibehaltung der alten Namen sei weder eine Sünde noch ein Verdienst. Eine Statistik aus 1935 zeigte denn auch einen weiteren Rückgang der Zahl des ungarländischen Deutschtums um 90 000 Seelen. Gratz jedoch wies auf Grund eines Standard-werkes aus der Zeit der Jahrhundertwende „ wissenschaftlich” nach, dass die Zukunft des ungarländischen Deutsch tums absolut gesichert sei. In einer streng vertraulichen Schrift hatte der Leiter des Statistischen Landesamtes, Alois Kovács, nachgewiesen, da die Madjarisierung des ungarländischen Deutsch- tums unaufhaltsame Fortschritte mache, dass der beste Weg zu ihrer Vorantreibung die „ seelische Harmonie” der Deutschen mit den Madjaren sei und dass den Ungarndeutschen keine eigene führende Mittelschicht gewährt werden dürfe. Auch Gratz betonte wiederholt
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