Neue Debatte - Beiheft #006 - 04/2017 Über die Korruption in Frankreich | Page 2

Die Klassenverblendung Wenn Herr Fillon sagt, dass ihm nicht be- wusst war, dass die Meinungen sich ge- rändert haben („Das, was gestern noch akzeptabel war, ist es heute nicht mehr„, stellte er am 6. Februar fest), dann glaube ich ihm beinahe. Er sieht sich selbst nicht als Dieb. Ein Dieb ist in seiner Vorstel- lungswelt jemand, der einem das Handy auf offener Straße ent- wendet oder jemand, der eine Bank überfällt. Die Diebe sind schmut- zig, gewalttätig und François Fillon ungebildet. Im Gegensatz dazu ist die Tatsache, dass jemand seine Ehefrau und seine Kinder mit Staatsgeldern entlohnt, das gesamte Budget zweckentfremdet, das eigentlich für die parlamentarischen Mitarbeiter ge- dacht ist, um sich zu bereichern oder um seine Kinder zu begünstigen, das alles ist in Herrn Fillons Welt kein Diebstahl. Wa- rum? Seitdem er Abgeordneter geworden ist, und wahrscheinlich schon zuvor, haben alle seine Kollegen ihm die Legitimität die- ser Nebeneinkünfte eingetrichtert. Wenn er dann sagt (und durch seine Anwälte wiederholen lässt), dass das oberste Fi- nanzgericht nicht zuständig ist für die Un- tersuchung der Entlohnung der parlamen- tarischen Mitarbeiter, dass es also nicht „die richtigen Stellen für die Untersu- chung“ sind, und wenn gleichzeitig andere Abgeordnete betonen, dass niemand sich einmischen und den Abgeordneten sagen darf, was sie mit dem ihnen zugebilligten 2 Etat machen, dann kann einen das natür- lich schockieren. Und ich bin schockiert. Aber sie sprechen damit nur einen Brauch, ein ungeschriebenes Gesetz, aus, das nur solange Anwendung finden kann wie es geheim und unsichtbar bleibt, solange man es unter sich, also innerhalb der Oli- garchie anwendet. Es wäre zweifelsohne besser, wenn sie in ihrem eigenen Interes- se lieber nichts sagen und einfach weiter- machen würden, solange man sie nicht dabei erwischt. Eine Zwei-Klassen-Justiz Vor einigen Tagen, als im Parlament über die Ausweitung der Regeln für den polizei- lichen Gewalteinsatz und die Bedingungen für den Waffengebrauch abgestimmt wur- de, haben die Abgeordneten eine Geset- zesänderung zur Verjährung von soge- nannten „White-Collar-Delikten“ [3] be- schlossen, indem sie die Verjährungsfrist für diese bürgerlichen Vergehen wie die Zweckentfremdung und Unterschlagung von öffentlichen Geldern auf zwölf Jahre reduziert haben, während die Frist für alle anderen Vergehen und Verbrechen ver- doppelt wurde. Gemäß diesem neuen Gesetz könnte die Untersuchung zu den Scheinverträgen von Herrn Fillon nicht weiter als 2004 zurück- gehen, obwohl Mediapart und Le Canard enchaîné aufgedeckt haben, das sein Sys- tem des Absaugens von öffentlichen Gel- dern schon seit 1989 besteht. Es handelt sich also nicht um einen einzelnen Abge- ordneten, der sich da in seine parlamenta- rische Würde einhüllt, um sich vor Straf- verfolgung zu schützen. Und es handelt sich nicht nur um Marine Le Pen, die dem Europäischen Parlament