HARVARD BUSINESS MANAGER MAGAZINE Harvard_Business_Manager__Juli_2017 | Page 43

KARRIERE SCHWERPUNKT Begegnung zwischen der überlebensgroßen Füh- rungspersönlichkeit und Fred Gluck, einem frühe- ren Managing Director der Beratung. Gluck lief Bower über den Weg, und dieser fragte nach dem Stand der Dinge bei Glucks erster Aufgabe für die Firma. Gluck antwortete wahrheitsgemäß, seiner Meinung nach würden seine vorgesetzten Partner die Sache völlig falsch angehen. Am nächsten Morgen fand Gluck auf seinem Schreibtisch die Notiz, er möge sich doch in Bo- wers Büro melden. Er rechnete mit seiner Kündi- gung, stattdessen fand er Bower mitten in einem Telefongespräch mit dem Projektleiter, in dem er die Kritik Glucks mit diesem diskutierte und ihr zustimmte. Der Ansatz wurde fallen gelassen, der Kunde musste nichts bezahlen, und der Job wurde neu in Angriff genommen. „Diese Pflicht zum Widerspruch war ein Prinzip von Marvin“, berich- tete ein Senior Consultant dem Biografen. „Das kam direkt von ihm ... Nur wenige Leute bringen den Mut auf, anderen zu widersprechen.“ Ein weiterer ehemaliger Mitarbeiter von McKin- sey ist Robin Richards, der heutige Chef der Career - Arc Group. Auch er macht deutlich, welches Ver- halten er von seinen Kollegen erwartet: „Geben Sie bei einem Meeting Ih- rem Boss niemals in allem recht, was er sagt“, erklärt Richards. „Wenn es eine Pflicht zum Widerspruch gibt, gewinnen wir die besten Mitarbeiter und si- chern uns die besten Ergebnisse. In einem solchen Umfeld gefällt es den Leuten, sie fühlen sich wertgeschätzt. Das macht sie unerschrocken.“ Um ehrlich zu sein: Nur wenige Men- schen trauen sich, zu widerspre- chen, und nur wenige sind uner- schrocken. Der Grund dafür ist, dass nur sehr wenige Führungskräfte dies ausdrücklich betonen und fördern. Edgar Schein, Professor emeritus an der MIT Sloan School of Management und Ex- perte auf den Gebieten Führung und Unternehmenskultur, hat jahrzehntelang die Eigenschaften großer Führungspersön- lichkeiten untersucht. Eine, deren Bedeutung er immer wieder hervorhebt, ist Bescheiden- heit – und zwar die Sorte, die zum Widerspruch einlädt. Leider ist diese Art Bescheidenheit sehr selten. Schein fragte einen Kreis von Studenten einmal, was die Beförderung zum Manager bedeute. „Sie antworteten, ohne zu zögern: ‚Es bedeutet, dass ich jetzt anderen sagen kann, was sie tun sollen.‘“ Genau dieser „Ich weiß alles besser“-Führungsstil hat so viele Krisen und Enttäuschungen hervorge- bracht. „Tief in ihrem Inneren glauben viele, dass jeder, der nicht gewinnt, automatisch verliert“, AUTOR WILLIAM C. „BILL“ TAYLOR ist einer der Mitbegrün - der von „Fast Company“. Zuletzt erschien sein Buch „Simply Brilliant. How Great Organizations Do Ordinary Things in Extraordinary Ways“ (Penguin 2016). Weitere Informationen unter williamctaylor.com warnt Schein. Unter Führungskräften gebe es die „unausgesprochene Annahme“, dass „das Leben ein unendlicher Wettkampf sei“. Dabei müssten Bescheidenheit und Ehrgeiz keine Gegensätze sein, argumentiert Schein, ganz im Gegenteil. Be- scheidenheit im Dienst des Ehrgeizes – genau dies ist die effektivste und nachhaltigste Geisteshal- tung für Führungskräfte, die in einer Welt voller Unsicherheit Großes erreichen wollen. Ein Hoch also auf die Bescheidenheit. Ein Hoch auf den Widerspruch. Und ein Hoch auf einen etwas fruchtbringenderen Führungsstil, als wir ihn bisher gesehen haben. © HBP 2017 siehe Seite 110 JULI 2017 HARVARD BUSINESS MANAGER 43