HARVARD BUSINESS MANAGER MAGAZINE Harvard_Business_Manager__Juli_2017 | Page 42
KOMMENTAR
WIDERSPRUCH IST PFLICHT
Überheblichkeit ist eine Todsünde im Management. Bleiben
Sie bescheiden und offen für den besseren Vorschlag.
VON BILL TAYLOR
W
er wie wir über die besten Wett -
bewerbs- und Führungsmethoden
nachdenkt, durchlebt gerade ver -
wirrende Zeiten. Was definiert
akzep tables – oder gar nachahmens-
wertes – Verhalten überhaupt noch
bei Politikern und öffentlichen Amts-
trägern? Warum tolerieren die Chefs so berühmter
Organisationen wie Volkswagen, Wells Fargo oder
der Fifa Handlungen, die in ihrer Ungeheuerlich-
keit deren gesamte Zukunft gefährden? Wie gehen
ehrgeizige Innovatoren mit Kritik und Einwänden
um, wie gewährleisten sie, dass Selbstvertrauen
nicht zu Überheblichkeit wird?
In einer Welt mit großem Bedarf an echter Füh-
rung scheinen viele Führungskräfte nicht mehr
in der Lage, solche Fragen zu beantworten. Ich
behaupte auch nicht, dass ich selbst einfache
Antworten habe. Aber ich weiß, dass die besten
Führungskräfte, die ich beobachtet habe – Ma -
nager und Entrepreneure, die auf der Grundlage
fundierter menschlicher Überzeugungen große
ökonomische Werte schufen –, allesamt die Über-
zeugung teilen, dass es eine „Pflicht zum Wider-
spruch“ gibt. Einfach gesagt: Ein echter Anführer
kann nur jemand sein, der die Menschen in
seinem Umfeld dazu bringt, offen ihre Meinung
auszusprechen, Heuchelei und Fehlverhalten
anzuprangern und ihre Vorgesetzten mit der -
selben Direktheit und Überzeugungsstärke zu be-
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HARVARD BUSINESS MANAGER JULI 2017
urteilen, die diese in ihren Plänen und Strategien
für die Untergebenen an den Tag legen.
Auf den Ausdruck „Pflicht zum Widerspruch“
stieß ich im vergangenen Jahr in einem interes-
santen Interview mit dem CEO Victor Ho. Er hatte
gerade als Mitbegründer eines Start-ups, das Kun-
denbindungsprogramme für kleine Geschäfte
a nbietet, mehr als 100 Millionen Risikokapital
eingesammelt. Ho sprach über seine Kindheit,
seine Collegezeit und die Erfahrungen, die seine
Instinkte als Unternehmer geprägt hatten. Außer-
dem erzählte er von einer zwischenzeitlichen
Tätigkeit bei der Unternehmensberatung McKin-
sey: „Die wichtigste Lehre, die ich von dort mitge-
nommen habe und die ich heute jedem meiner
neuen Mitarbeiter mit auf den Weg gebe, ist das,
was man dort die ‚Pflicht zum Widerspruch‘
nennt“, sagte er der „New York Times“. „Der Aus-
druck bedeutet, dass bei jeglichem Meeting die
jüngste und rangniedrigste Person im Raum am
besten dafür geeignet ist, dem höchstgestellten
Mitarbeiter zu widersprechen.“
Was für ein Bild und was für ein Kontrast zu
dem, was üblicherweise in den Machtzentren der
Unternehmen passiert. Die Pflicht zum Wider-
spruch ist ein fest etabliertes Markenzeichen der
Kultur bei McKinsey, schon vor Jahrzehnten ein-
geführt von Marvin Bower, dem legendären Chef
der weltweit angesehensten Unternehmensbera-
tung. Eine Biografie Bowers beschreibt die erste