HARVARD BUSINESS MANAGER MAGAZINE Harvard_Business_Manager__Juli_2017 | Página 38
SCHWERPUNKT KARRIERE
Befragte überhaupt angefangen hat, darüber
nachzudenken.
UNGEWOHNT UNWOHL
Das Aufstöbern von neuen Informationen führt
Sie eigentlich immer aus dem Bereich heraus, in
dem Sie sich kompetent fühlen und alles im Griff
haben. Der Autor Joseph Campbell schrieb einmal:
„Wo Sie ins Stolpern geraten, da liegt Ihr Schatz.
Die Höhle, in die Sie sich nicht hineintrauen,
erweist sich als Quelle dessen, was Sie suchen.“
Wenn Sie nicht mehr in Ihrem Element sind,
werden Sie besonders wachsam, und dasselbe
geschieht, wenn Sie sich irren. Sie werden auf-
merksamer und versuchen, Witterung aufzuneh-
men. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, sich zu
orientieren, oder einer beunruhigenden Lage Herr
werden wollen, jagen Ihnen neue Fragen durch
den Kopf und Sie suchen aktiv nach allen mög-
lichen Informationen, bevor Sie wichtige Ent-
scheidungen treffen. Viele CEOs können sich
kaum noch daran erinnern, wann sie das letzte
Mal in so einer Situation waren – zumindest beruf-
lich. Es braucht große Entschlossenheit, sich be-
wusst in so eine Lage zu begeben. Schließlich ist es
anstrengend, derart wachsam zu sein.
Solche Situationen können aber eine Quelle der
Inspiration sein. Als der Sozialunternehmer An-
dreas Heinecke 1988 in seinem ersten Job bei
einem Radiosender arbeitete, sollte er einen ande-
ren jungen Journalisten ausbilden, der bei einem
Autounfall das Augenlicht verloren hatte. Zu-
nächst wusste Heinecke nicht, wie er an die Auf-
gabe herangehen sollte. Außerdem stellte er zu
seiner Schande schnell fest, wie viele Stereotype
er über Menschen mit Behinderungen im Kopf
hatte. Er fühlte sich so unwohl, dass er diese un -
bekannte Welt erst einmal kennenlernen wollte –
und in diesem Frage- und Forschungsmodus fand
Heinecke die Leidenschaft, die seine gesamte Kar-
riere prägen sollte. Sie brachte ihn dazu, „Dialog
im Dunkeln“ zu gründen, eine preisgekrönte Orga-
nisation, in der Blinde jedes Jahr rund 800 000 Be-
sucher (seit Eröffnung insgesamt mehr als acht
Millionen) durch völlig dunkle Ausstellungen füh-
ren und in Workshops vermitteln, wie es ist, ohne
Augenlicht zu leben.
Fadi Ghandour, Mitgründer des Liefer- und Lo-
gistikunternehmens Aramex in Dubai, ist ein Fan
davon, immer wieder seine Managementkomfort-
zone zu verlassen. Als er eines Nachts gegen zwei
Uhr am Flughafen in Dubai ankam, entschied er
sich gegen die übliche Luxuslimousine mit Fahrer
und ließ sich stattdessen von einem der Paketzu-
steller des Unternehmens abholen. Während der
Fahrt zum Hotel stellte er dem Fahrer forschende
Fragen und hörte sich genau an, was er zu sagen
hatte. Dabei erfuhr Ghandour von operativen Pro-
blemen, die die Pünktlichkeit der Zustellungen ge-
38
HARVARD BUSINESS MANAGER JULI 2017
„JEDEN TAG FRAGE ICH MICH:
BEI WIE VIELEN DINGEN LIEGE
ICH VOLLKOMMEN DANEBEN?“
fährdeten. Das erste, was Ghandour an diesem
Morgen machte, war, das örtliche Management
zusammenzurufen – und er sorgte dafür, dass
auch einige Zusteller dabei waren. Während die
Manager zuhörten, stellte er die gleichen Fragen,
die er ein paar Stunden zuvor auf der Fahrt zum
Hotel gestellt hatte, damit alle von den aufkom-
menden Problemen erfuhren (zum Beispiel dass
die Zusteller überlastet waren und die Manager
den Kontakt zur Praxis verloren hatten).
Wichtig ist, dass bei dem Treffen nur die ge -
genseitige Information im Vordergrund stand.
Niemand wurde nach vorn zitiert, um zu erklären,
warum die Probleme übersehen worden waren.
Ghandour beschloss, solche Treffen als regel -
mäßige Termine, bei denen das Team Frühwarn-
signale erkennen konnte, zu institutionalisieren.
Heute müssen die Aramex-Manager immer wieder
ihre ergonomischen Chefsessel verlassen und
vorübergehend als Zusteller arbeiten.
Was Ghandour propagiert, klingt vielleicht
gar nicht so schlimm. Das ist es auch nicht. Aber
fragen Sie sich einmal, wann Sie das letzte Mal so
etwas wie Ghandours Flughafenaktion gemacht
haben. Stellen Sie sich vor, Sie wissen mitten in
einem anstrengenden Reisemonat schon im Flie-
ger, dass nach der Landung eine ganze Reihe neue
Nachrichten auf Sie warten, die Sie beantworten
müssen. Hätten Sie sich da nicht Ihre Limousine
mit Fahrer an den Flughafen bestellt? Es gibt im-
mer ausgezeichnete Gründe dafür, den scheinbar
effizienten CEO-Kokon nicht zu verlassen.
Rod Drury verfolgt einen ähnlichen Ansatz wie
Ghandour, nur mit den Kunden statt mit den Mit-
arbeitern. Beim Vorhaben seines Unternehmens,
es mit dem Branchenführer Intuit aufzunehmen,
nahm er sich Intuit-Gründer Scott Cook zum Vor-
bild, der regelmäßig QuickBooks-Kunden bei der
täglichen Arbeit mit der Buchhaltungssoftware
beobachtet. 2005 schaute Drury mehr als 200
potenziellen Kunden über die Schulter – Eigen -
tümern und Managern kleiner Unternehmen.
Er traf sich gleich morgens mit ihnen in ihrem
Büro und war dabei, wenn sie ihren Rechner hoch-
fuhren und sich die erste Tasse Kaffee einschenk-
ten. Diese Besuche brachten ihm eine wichtige