Extrablatt März 2015 | Page 6

6 Immer absurdere Befehle! Sie können bei jeder Abstimmung frei entscheiden – noch. Waren Sie für die M ­ inarettverbotsinitiative oder dagegen? Unterstützen Sie die Ausschaffungs­ initiative oder nicht? Sind Sie für die lebenslange Verwahrung von nicht t ­ herapierbaren Sexual- oder Gewaltstraftätern oder dagegen? Das ist Ihr Recht! Nationalrat Lukas Reimann, Wil (SG) Und es ist auch Ihr Recht, etwas mittels Volksinitiative oder Referendum zur Abstimmung zu bringen! Es gibt bei jeder Abstimmung Argumente für und gegen etwas. Aber seien Sie auf keinen Fall gegen die direkte Demokratie, nämlich Ihr Recht, über all diese Fragen selber zu entscheiden. Genau das ist heute gefährdet. Direkte Demokratie als Bremse Von uns Bürgerinnen und Bürgern geht alle Staatsgewalt aus. Mit dem Recht auf Volksabstimmungen können wir unsere Stimme viel differenzierter zum Ausdruck bringen: Vor Volksabstimmungen kommt es zu einer breiten, oft zugespitzten, aber doch auch aufklärend wirkenden Diskussion. Volksabstimmungen decken Widersprüche zwischen Politikern und Wählern auf. Immer wieder entscheiden die Bürgerinnen und Bürger anders als zuvor das Parlament. Wer gefragt wird, wendet sich nicht ab. Ausufernder EGMR fernab jeglicher Vernunft In den vergangenen Jahren uferten die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) immer weiter aus. Sie griffen damit immer mehr in die Souveränität der Schweiz ein – obwohl bei der Unterzeichnung der EMRK keine Rede von derart weitgehenden Beurteilungen und Verurteilungen aller möglichen und unmöglichen Rechtsbereiche der Schweiz war. Nein, so war das ganz sicher nicht gemeint. Und die Kritik an den Urteilen des EGMR wird immer grösser – von Angela Merkel bis David Cameron. Vielen Urteilen geht jeglicher gesunde Menschenverstand ab. Sie finden einige dieser Urteile unten stehend ausführlich beschrieben. Stossende Urteile des Europäischen Gerichts­ hofes für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg: Asylpolitik ausgehebelt (case of Tarakhel v. Switzerland, 29217 / 12) Der EGMR stellte am 14. November 2014 im Fall T. fest, dass die Schweiz eine afghanische Familie nicht nach Italien zurückschi cken dürfe (bzw. erst nachdem Italien gegenüber der Schweiz Garantien abgeben kann, dass die Familie in Italien gut untergebracht wäre), obwohl die Familie in Italien ihr erstes Asylgesuch gestellt hat und das Dublin-Abkommen genau diese Rückführung ins Erstasylland vorsieht. Den Entscheid fällten 17 Richter in Strassburg. Kriminelle vor Ausweisung geschützt (affaire Udeh c. Suisse, 12020 / 09) Aus dem Anspruch auf Schutz des Familienlebens (Art. 8 EMRK) hat der EGMR im Urteil vom 16. April 2013 abgeleitet, dass die Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe und Sozialhilfeabhängigkeit kein ausreichender Grund sei, einen Ausländer auszuweisen und damit von seinen Kindern zu trennen. Im Jahr 2001 reiste der Nigerianer unter falscher Identität in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch, welches abgelehnt wurde. Er verliess in der Folge die Schweiz. Im Jahr 2003 reiste er – mit der Absicht, eine Schweizer Bürgerin zu heiraten – wieder ein. Die beiden bekamen Zwillinge. Drei Jahre später wurde U. in Deutschland beim Versuch, Kokain einzuführen, festgenommen und zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Verbüssung der Haftstrafe reiste U. zurück in die Schweiz zu seiner Familie. Die Ehe wurde später geschieden. U. blieb in der Schweiz und wurde 2012 erneut Vater. Die neue Partnerin ist Schweizerin. Das Bundesgericht lehnte im Jahr 2009 die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ab. Es begründete dies u.a. mit der Straffälligkeit von U. sowie mit dessen Sozialhilfeabhängigkeit. Am 16. April 2013 entschieden die Strassburger Richter mit 5 gegen 2 Stimmen zugunsten von U. Die Schweiz hat den EGMR um Neubeurteilung durch dessen Grosse Kammer ersucht. Diese hat diese Beurteilung jedoch abgelehnt. Damit wurde das Urteil definitiv. Die Schweizer Behörden müssen dem Kläger 9’000 Euro Genugtuung zahlen. Kostenübernahme für Geschlechtsumwandlung (affaire Schlumpf c. Suisse, 29002 / 06) Zu den Menschenrechten gehört nach Auffassung des EGMR das Recht, sich von der obligatorischen Grundversicherung in der Schweiz eine Geschlechtsumwandlung bezahlen zu lassen (Urteil EGMR vom 8. Januar 2009; Verletzung von Art. 8 EMRK, entschieden mit 5 zu 2 Stimmen). Drogenhändler darf in der Schweiz bleiben (BGE 139 I 16 ff.) X. (geb. 1987) stammt aus Mazedonien. Er reiste im November 1994 im Rahmen eines Familiennachzugs in die Schweiz ein, wo er in der Folge über eine Niederlassungsbewilligung verfügte. Nach der obligatorischen Schulzeit absolvierte er eine Anlehre als Maler. Am 18. Juni 2010 wurde X. wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Das Strafgericht befand, dass er sich ohne Notlage am organisierten Drogenhandel und insbesondere an der geplanten Umsetzung von rund einem Kilogramm Heroin beteiligt habe. Das Migrationsamt des Kantons Thurgau widerrief am 30. März 2011 die Niederlassungsbewilligung von X. und wies ihn aus der Schweiz weg. Die von X. hiergegen ergriffenen kantonalen Rechtsmittel waren ohne Erfolg. Das Bundesgericht hiess – beeinflusst durch die Rechtsprechung des EGMR – die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten am 12. Oktober 2012 jedoch gut und hob das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. September 2011 auf mit dem Ergebnis, dass X. in der Schweiz bleiben darf. Dass das Schweizer Volk am 28. November 2010 die Ausschaffungsinitiative gutgeheissen hat, berücksichtigte das Bundesgericht nicht. Bedeutung und Folgen dieser Urteile • Die Auslegung und Anwendung der Bundesverfassung hat sich innerhalb der Schranken des Völkerrechts zu bewegen. • Völkerrecht – auch das nicht zwingende Völkerrecht – geht der Bundesverfassung und den Bundesgesetzen vor. Auch das Bundesgericht hat auf Druck des EGMR die rechtliche Souveränität der Schweiz preisgegeben und die Verantwortung für die schweizerische Rechtsordnung dem internationalen Recht und den internationalen Gerichten übertragen. Dies stellt einen massiven Einschnitt in unsere direktdemokratischen Rechte dar. Menschenrechte als zentraler Teil der Schweizer Verfassung Die Menschen- und Grundrechte garantiert die Schweiz in ihrer Verfassung schon lange. Mit einem Angriff auf diese hat die Selbstbestimmungsinitiative nichts zu tun, im Gegenteil. Ziel der Selbstbestimmungsinitiative ist deren Schutz durch Schweizer Richter, die – im Gegensatz zu den Richtern in Strassburg und Luxemburg – mit den schweizerischen Verhältnissen vertraut sind und den Wert unserer demokratischen Ordnung kennen. Gerne geht vergessen, dass sämtliche im internationalen Recht festgeschriebenen Menschenrechte unter der Bezeichnung «Grundrechte» in der Schweizerischen Bundesverfassung festgeschrieben sind und teilweise in den Kantonsverfassungen ergänzt werden. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), abgeschlossen am 4. November 1950 und für die Schweiz in Kraft getreten am 28. November 1974, enthält einen Katalog von Menschenrechten und Grundfreiheiten, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) angerufen werden können, die inhaltlich aber nicht weiter gehen als die Grundrechte unserer Bundesverfassung, wie folgende Aufzählung zeigt: Mit der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 wurden sämtliche Grundrechte in den Artikeln 7 – 34 ausdrücklich festgehalten: Art. 7: Menschenwürde Art. 8: Rechtsgleichheit Art. 9: Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben Art. 10: Recht auf Leben und persönliche Freiheit Art. 11: Schutz der Kinder und Jugendlichen Art. 12: Recht auf Hilfe in Notlagen Art. 13: Schutz der Privatsphäre Art. 14: Recht auf Ehe und Familie Art. 15: Glaubens- und Gewissensfreiheit Art. 16: Meinungs- und Informationsfreiheit Art. 17: Medienfreiheit Art. 18: Sprachenfreiheit Art. 19: Anspruch auf Grundschulunterricht Art. 20: Wissenschaftsfreiheit Art. 21: Kunstfreiheit Art. 22: Versammlungsfreiheit Art. 23: Vereinigungsfreiheit Art. 24: Niederlassungsfreiheit Art. 25: Schutz vor Ausweisung, Auslieferung und Ausschaffung Art. 26: Eigentumsgarantie Art. 27: Wirtschaftsfreiheit Art. 28: Koalitionsfreiheit Art. 29: Allgemeine Verfahrensgarantien Art. 29a: Rechtsweggarantie Art. 30: Gerichtliche Verfahren Art. 31: Freiheitsentzug Art. 32: Strafverfahren Art. 33: Petitionsrecht Art. 34: Politische Rechte Selbstbestimmungsinitiative steht für Menschenrechte ein Die Schweiz garantiert die Menschenrechte nicht nur unabhängig vom A ­ nschluss an die EMRK sowie an A ­ bkommen der Vereinten Nationen (insbesondere die UNO-Pakte I und II), sie geht inhaltlich sogar weiter. Die Selbstbestimmungsinitiative steht für die Einhaltung der Menschenrechte ein und hat Vertrauen in das Schweizer Rechtssystem, dass es diese auch achtet. Es ist nicht einzusehen, weshalb fremde Richter die Menschenrechte besser schützen würden als unsere höchsten Richter. Die Selbstbestimmungsinitiative ist deshalb auch als Vertrauensbeweis zugunsten unseres eigenen Rechtssystems zu verstehen. Verpolitisierung der Menschenrechte Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass Menschenrechte und Grundrechte eingeschränkt Menschenrechte und Grundfreiheiten gemäss EMRK: Art. 2: Recht auf Leben Art. 3: Verbot der Folter Art. 4: Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit Art. 5: Recht auf Freiheit und Sicherheit Art. 6: Recht auf ein faires Verfahren Art. 7: Keine Strafe ohne Gesetz Art. 8: Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens Art. 9: Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Art. 10: Freiheit der Meinungsäusserung Art. 11: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Art. 12: Recht auf Eheschliessung Art. 13: Recht auf wirksame Beschwerde Art. 14: Diskriminierungsverbot werden können. Das halten die EMRK und unsere Bundesverfassung gleichermassen fest. Denn auch im Bereich der Menschen- und der Grundrechte gilt: keine Rechte ohne Pflichten. Jedem Menschen- oder Grundrecht stehen immer auch legitime Interessen anderer Personen oder der Gesellschaft gegenüber. So haben auch Opfer von Gewalttaten Grundrechte, und nicht nur Täter. Ein Landesverweis eines Straftäters kann zwar ein Eingriff in sein Privat- und Familienleben sein, jedoch hat auch das Opfer bzw. die Gesellschaft ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und einen Schutz vor wei­ teren Delikten des Täters. In der D ­ iskussion um Menschenrechte und Grundrechte gehen der Schutz der Opfer und die Sicherheit der Bevölkerung leider immer häufiger vergessen.