+3 Magazin Oktober 2018 | Page 12

+2 12 WIR FRAGEN: WAS LÄSST UNS GENIEßEN? ... und was ist Ihre Meinung? www.plus-drei.de [email protected] 2014 war das erste Jahr, in dem es weltweit mehr fettleibige als untergewichtige Menschen gab. Quelle: NCD-RisC Eckart Witzigmann, Sternekoch und Kochbuchautor Wie eine Sinfonie Der Weg zum perfekten Genuss ist eine gefährliche Gratwanderung. Hier der erwartungsvolle Gast, dort der Koch und seine Mannschaft. Ich habe diesen Kampf zwischen Erwartung und Realität über Jahrzehnte ausge- fochten und die Erwartungen der Gäs- te erfüllt und übertroffen. Man muss jedoch konstatieren: Der Genuss liegt zuvorderst beim Gast, der Koch muss sich einem Hochgebirge aus Stress stellen. Ein Restaurant gleicht einem perfekt eingespielten Orchester. Von der Tischwäsche bis zum Blumen- schmuck, von der Weintemperatur bis zur Bügelfalte der Kellnerhose, alles ist auf das große Ereignis vorbe- reitet. Die Küche hat sich in Stellung gebracht, die feinsten Produkte liegen bereit. Die Abläufe sind hundertfach durchexerziert. Und trotzdem schlei- chen sich manchmal Fehler ein. Der größte Feind der Spitzenküche ist die Routine. Oder der Gast ist indis- poniert. Oft reicht ja die berüchtigte Fliege an der Wand oder das Haar in der Suppe wird strapaziert. Zum Ge- nuss gehören immer zwei: der, der ihn erleben will, und der, der ihn be- reiten soll. Als ich noch die Muße hat- te, nach dem Service eine Runde im Lokal zu machen, habe ich manchmal gehört: Lieber Herr Witzigmann, seit meine Frau ihr neues Buch gelesen hat, kocht sie so gut wie sie. Da geht man dann in die Küche zurück und denkt über die Berufswahl nach. Aber für mich war und ist es der schönste Beruf der Welt: Genuss zu schenken, auch wenn der Weg dorthin manch- mal kurvenreich ist. © iStock./YakobchukOlena Rainer Lutz, Psychologe und Verhaltenstherapeut Kultiviert wahrnehmen Genuss braucht Zeit, die vielen in ih- rem als stressig erlebten Alltag fehlt. Aber: Es gab zuvor kaum eine Ge- neration mit so viel freier Zeit. Im Durchschnitt haben Deutsche täglich knapp vier Stunden Zeit, in der sie tun und lassen können, was ihnen gefällt. Das Zeitbudget erlaubt also durch- aus Genuss und vielfach auch eine Entschleunigung des Alltags. Genuss wird gerne mit Konsum verwechselt. Beim Konsum gilt, was die Werbung predigt: je mehr und je teurer, desto besser. Ein Genießer jedoch sucht be- wusst aus, was in einem bestimmten Augenblick gut für ihn ist. Er kann den Genuss aufwändig zelebrieren oder sich einen kurzen Genussmo- ment schaffen. Er unterbricht quasi den Handlungsstrom und konzent- riert seine sinnliche Wahrnehmung ganz auf ein Objekt oder eine Bege- benheit – etwa ein gutes Essen, den Sonnenuntergang oder den Duft eines Apfels. Während des Genießens wer- den nicht nur schöne Erinnerungen oder Bilder geweckt, sondern auch negative Momente aus dem Erleben ausgeschlossen. Zwangsläufig fördert Genuss Entschleunigung und kulti- viert die sinnliche Wahrnehmung. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich Zeit für Genuss zu schaffen. Das kann ein kurzer Augenblick sein, um sich für einen Genussmoment dem Getrie- be des Alltags zu entziehen. Es geht kaum kostbare Arbeitszeit verloren. Zu fragen ist also, ob sich ein Zeitbud- get entrümpeln lässt, um Inseln für Genuss zu schaffen und welche Ge- wohnheiten dem entgegenstehen.