+3 Magazin Oktober 2017 | Page 20

+3 20 WIR FRAGEN: WIEVIEL SICHERHEIT BRAUCHT FREIHEIT? ... und was ist Ihre Meinung? www.plus-drei.de [email protected] 12.000 Mal musste die bayerische Bergwacht im Jahr 2016 ausrücken und prangerte dabei die „Leichtsinnigkeit und Selbstüberschätzung“ der Wanderer an. Quelle: Deutscher Alpenverein © iStock./lzf Wolfgang Welsch, Publizist, Autor und ehemaliger DDR-Fluchthelfer Kein Widerspruch Freiheit und Sicherheit bedingen sich gegenseitig, Freiheit kann es nur in einem stabilen Rechtsstaat geben. Diktaturen und auch autoritäre Sys- teme täuschen Sicherheit vor, und Menschen, die die Freiheit suchen, wurden und werden kriminalisiert. Für mich als Flüchtling und später als Fluchthelfer ist Freiheit die Vor- aussetzung für ein Leben in Würde. Der Rechtsstaat hat die Aufgabe, ein Leben in größtmöglicher Sicherheit zu ermöglichen; hundertprozentige Sicherheit kann es niemals geben, und deshalb dürfen die persönlichen Freiheitsrechte nicht zugunsten einer trügerischen Sicherheit durch unlau- tere Überwachungsmaßnahmen und Kontrollen eingeschränkt werden. In einem funktionierenden Rechtsstaat mit ausgeprägter Gewaltenkontrolle kann dies funktionieren. Die meisten Menschen sind heute in der luxuri- ösen Situation, dass Freiheit für sie selbstverständlich ist und sie ihren Wert gar nicht zu schätzen wissen. Ich jedoch erinnere mich noch gut an meinen Freikauf nach siebenjäh- riger Haft, an das berauschende und unbeschreibliche Gefühl der Freiheit, der Selbstbestimmung und Selbst- verantwortung. Deshalb ist es heute so wichtig, auf die Einhaltung de- mokratischer Rechte und Regeln zu bestehen und nicht einfach die Ver- antwortung an den Staat abzugeben. Die Missbrauchsgefahr darf nicht unterschätzt werden, auch wenn die heutigen Sicherheitsmaßnahmen kei- nesfalls mit den kriminellen Machen- schaften des MfS zu vergleichen sind. Michael Kuch, Leser Mehr Vertrauen wagen Zweifellos braucht Freiheit ein be- stimmtes Maß an Sicherheit. Sicher- heiten bilden den Rahmen, in dem sich die Spielräume unseres Lebens eröffnen. Doch bis zu welchem Punkt kann man das Gefühl der Freiheit ab- sichern? Zur Erfahrung der Freiheit jedenfalls gehört das Spielerische, das Neue, das Wagnis auch. Wenn wir uns frei fühlen, dann probieren wir uns aus; wir erkunden und entdecken Möglichkeiten, die uns bislang viel- leicht verschlossen geblieben sind. Der Zwang, sich ständig abzusichern, kann Freiheit auch ersticken. Wer in eine Steilwand klettert, tut gut daran, sich anzuseilen. Doch das Wagnis selbst kann man nur eingehen. Gerade des- halb verbinden sich mit ihm intensive Erfahrungen: Anstrengung, Ausdauer, Gipfelglück. Um das Leben zu wagen, braucht es vor allem eines: Vertrauen. Und Vertrauen erwächst an dem, was sich nicht mit Sicherheit beweisen, sehr wohl aber erfahren lässt: Ich bin geliebt, gemeint, angenommen – und zwar bedingungslos. Es sind solche Erfahrungen, die zum Beispiel Mar- tin Luther als Gewissheiten des Glau- bens entdeckt und beschrieben hat. Zwischen Sicherheit und Gewissheit besteht ein feiner, aber entscheiden- der Unterschied. Letzteres verweist auf das, was das Leben auch in seinen unsicheren, gefährdeten Momenten tatsächlich trägt. Wie viel Sicherheit braucht Freiheit? Zumindest so viel, um nicht abzustürzen. Doch gelebte Freiheit – mir selbst und Anderen ge- genüber – entsteht aus Vertrauen.