Anzeige
Niko Paech,
Autor des Buches
„Befreiung vom Überfluss“
Die Kunst der Reduktion
Unser Leben ist vollgestopft mit immer mehr Gütern, Ereignissen und
bequemen Technologien. All dies
soll unseren Genuss steigern. Mittlerweile fehlt die Zeit, dies alles so
abzuarbeiten, dass ein spürbarer
Nutzen entsteht. Denn jede Aktivität
und jedes Ding verlangt nach einem
Minimum an Aufmerksamkeit, um
sinnlich wahrgenommen werden zu
können. Genuss lässt sich nicht delegieren, sondern erfordert die eigene leibliche und sinnliche Präsenz,
somit also Zeit. Neurologen konnten
zudem beweisen, dass wir uns bestenfalls auf zwei Dinge gleichzeitig
konzentrieren können. Da die Anzahl
Hartmut Dorgerloh,
Generaldirektor
Stiftung Preußische
Schlösser und Gärten
Berlin-Brandenburg
Gehen, sehen, verstehen
Der Weg ist das Ziel. Es war eine
„Philosophie der Wegeführung“, der
sich Gartenkünstler wie Friedrich
Ludwig von Sckell in Bayern oder
Peter Joseph Lenné und Hermann
Fürst von Pückler-Muskau in Potsdam verpflichtet fühlten. Sind doch
die von ihnen angelegten Landschaftsgärten nur durch Bewegung
erlebbar: Die Pflanze steht an ihrem
Ort und wir bewegen uns. Dadurch
werden wir Teil dieser Erlebniswelt.
Ja, wir schaffen sie eigentlich erst.
Blumen, Baumgruppen, Blickbeziehungen sind quasi das Vokabular
dieser Gärten – und mit der Anlage
von Wegen werden Romane erzählt.
Billy Wagner,
Berliner Wirt
und Sommelier
Moderner Ablasshandel
Der Genuss bleibt doch bei Ihnen auf
der Strecke, oder? Sie denken doch
einfach, ihnen schmeckt das, was Sie
essen, und wahrscheinlich tut es das
auch. Aber da Sie gar nicht wissen,
was für einen Fraß Sie tagtäglich essen, essen müssen, ist es auch nicht
so schlimm. Bitte ändern Sie nichts,
sonst müssen Sie ein Fass aufmachen,
dass Sie nie wieder zubekommen. Sie
wundern sich auch gar nicht, dass Sie
immer die gleiche langweilige Scheiße in sich hineinschieben! Ein lautes
Nein schallt aus der letzten Reihe
im Raum. Wir kaufen doch nur im
der Dinge, die wir uns kaufen können, explodiert, konkurrieren diese
Objekte um die nicht vermehrbare
Aufmerksamkeit. Wer ein Buch zu
schnell liest, Musik zu flüchtig hört
oder einen guten Wein „auf ex“ herunterkippt, kann diese Dinge nicht
genießen, sondern setzt sich Stress
und Reizüberflutung aus. Sinnliche,
physische und kognitive Aufnahmekapazität sind menschliche Ressourcen, die nicht überbeansprucht
werden dürfen. Die genussstiftende
Wirkung einer Sache setzt voraus,
dass ihre Verwendung eine Qualität
aufweist, die außerhalb ihrer selbst
liegt, nämlich vom Betrachter oder
Nutzer selbst aufzubringen ist. Damit wird jede genussstiftende Verwendung zu einer virtuosen, aber
zeitintensiven Handlung, die sich
nur auf eine begrenzte Menge an Gütern erstrecken kann. Der Schlüssel
zum Genuss liegt in kluger Reduktion und Entschleunigung.
Romane freilich, die ohne unsere eigenen Träume unvollständig wären.
Was Menschen bewegt, hat der Dichter Rudolf Borchardt gesagt, wird
Musik, Literatur, Malerei, früher
oder später aber auch Garten. Deshalb noch einmal: Was uns bewegt,
erfahren wir im Garten, indem wir
uns bewegen und uns immer weiter
in ihn hineinlocken lassen – neugierig, vor allem jedoch genießend. Was
nun aber das Genießen betrifft, verbanden die königlichen Auftraggeber
der Potsdamer Parks stets das Schöne mit dem Nützlichen. Gestaltete
Landschaft und Nutzgärtnerei gehörten für sie zusammen. Um Obst auf
seine Tafel zu bekommen, ließ etwa
Friedrich der Große auf den Terrassen des Schlosses Sanssouci Wein
oder Feigen ziehen, vor den Neuen
Kammern Kirschbäume pflanzen.
Seine Nachfolger hielten es genauso.
Denn sie wussten, dass schon im Paradies lebt, wer einen Garten hat.
Bioladen ein. Tomaten und Südfrüchte im Winter und Äpfel im
Sommer, Biowein und Biobier. Ah,
so ist das, dann ist ja alles gut. Die
kaufen im Bioladen. Ablasshandel
nennt man das, wenn der Prenzlauer Berg und Kreuzköllner Bildungsbürger dort seinen täglichen Bedarf
einkauft. Auf dem Markt kannst du
nicht jedes Mal einkaufen gehen. Da
ist es dann wirklich zu teuer. „Schatz,
hol schon mal den Mercedes, dass
wir die Einkäufe verstauen können.“
Wo bleibt nun der Genuss? Der
steckt zwischen dem Mercedes und
dem neuen Apple Smartphone fest.
Genuss ist Zeit. Zeit zu haben, sich
sein Essen aussuchen zu können. Die
Wahl zu haben. Jeder hat die Wahl.
Nur zu häufig nehmen wir das, was
man uns vorsetzt. Hinterfragen
nichts und schon sind wir wieder mit
etwas anderem beschäftigt.