+3 Magazin April 2015 | Page 10
+2
10
WARUM FASZINIERT
GESCHWINDIGKEIT?
WIR FRAGEN:
... und was ist
Ihre Meinung?
www.plus-drei.de
[email protected]
Pro Tag sind deutsche Autofahrer in 666 Wildunfälle verwickelt. Die meisten davon passieren in
Waldabschnitten bei überhöhter Geschwindigkeit.
Quelle: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft
© Jon Hicks/Corbis
Thomas Reiter,
ESA-Direktor
Alles verschwimmt
Geschwindigkeit hat unser Leben
geprägt: Sie verringert die Zeit zum
Erreichen unserer Reiseziele. Kontinente, Länder und Städte rücken
näher zusammen. Allerdings nimmt
man die Geschwindigkeit nicht wahr,
wenn man in einem Verkehrsflugzeug in zehn Kilometern Höhe unterwegs ist oder in 90 Minuten die Erde
an Bord der internationalen Raumstation ISS umkreist. Wer dagegen
mit 200 km/h über die Autobahn
rast, für den ist nur das vor einem
liegende Terrain scharf zu erkennen,
während im peripheren Sichtfeld
die Landschaft verschwimmt. Der
Mensch kann gleichförmige Bewegungen, wenn überhaupt, nur mit
seinen Augen wahrnehmen. Natürlich ist Geschwindigkeit auch immer
mit Beschleunigung verbunden. Die
wiederum können wir sehr wohl
mit unseren Sensoren wahrnehmen.
Beschleunigung vermittelt uns das
Gefühl von Dynamik: In Kurven
werden wir im Autositz nach außen
gedrückt, unser Körper wird beim
Looping mit einem Kunstflugzeug
mit einem Vielfachen seines Gewichtes in den Sitz gepresst, ähnlich
wie beim Start einer Rakete, wo man
steigenden Beschleunigungskräften
ausgesetzt ist. In weniger als neun
Minuten beschleunigt man von 0 auf
7,6 Kilometer pro Sekunde und befindet sich im Weltraum, wo man die
Kontinente gemächlich unter sich
hinwegziehen sieht. Im vorletzten
Jahrhundert war man davon überzeugt, dass Menschen Geschwindigkeiten über 50 km/h nicht aushalten. Heute ist Geschwindigkeit
beherrschbar, und sie prägt unsere
Zivilisation.
Friedrich Wilkening,
Professor für Psychologie,
Universität Zürich
Irrationaler
Geschwindigkeitsrausch
Bei unserem Streben nach höheren
Geschwindigkeiten
überschätzen
wir oft eklatant den Zeitgewinn, der
dadurch erreicht wird. Dies gilt vor
allem dann, wenn wir uns ohnehin
schon im relativ hohen Bereich befinden. So scheinen viele ansonsten
intelligente Leute zu glauben, dass
eine Erhöhung von 130 auf 140 km/h
den gleichen Zeitgewinn bringt wie
eine Erhöhung von 30 auf 40 km/h.
Das ist natürlich nicht der Fall – wir
haben hier einen Irrtum mit einem
Faktor von größer als 15! So gesehen
hat unser Streben nach höheren Geschwindigkeiten etwas Irrationales
an sich. Es gibt eine allgemeinere psychologische Erklärung dafür:
Auch hier, wie in so vielen anderen
Bereichen, fallen wir oft auf additive
Denkschemata zurück, wenn objektiv
multiplikative Gesetze gelten – wie es
in der Zeit-Weg-GeschwindigkeitsTriade von Natur aus der Fall ist.
Interessanterweise äußert sich dieser
Fehler eher in unserem „Kopf“-Wissen als in jenem, welches in unserem
Körper zu stecken scheint. Auf dieser
Ebene agieren wir meistens so, als
ob wir die multiplikativen physikalischen Gesetze kennen würden. Und
dies gilt nicht nur für Erwachsene,
sondern auch schon für Kinder. Neuerdings gibt es sogar Anhaltspunkte
dafür, dass Kinder früher Geschwindigkeitskonzepte als Zeitkonzepte
entwickeln – im Gegensatz zu älteren Ideen, die davon ausgingen, dass
ein Verständnis für Geschwindigkeit
„natürlich“ erst nach dem Verständnis für Zeit entstehen könne.