B a u ka s te n s y s te m e i n A rch i te k t u r, K u n s t, M ö b e l d e si g n u n d B a u s p i e le n
W E R K S P U R E N 1 / 2 0 1 1
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T H E M A
B a u ka s te n s y s te m e i n A rch i te k t u r, K u n s t, M ö b e l d e si g n u n d B a u s p i e le n
Sei es im menschlichen Erbgut oder im Möbeldesign, ein systematischer Aufbau aus einzelnen standardisierten Bauteilen birgt zahlreiche Vorteile. Seit der Antike scheint die Anwendung einer gewissen Massordnung im bildnerischen und architektonischen Gestalten eine Voraussetzung für ein ästhetisches und ausgewogenes Erscheinungsbild zu sein. Auch in der Gestaltpsychologie wird davon ausgegangen, dass der menschlichen Wahrnehmung eine Art angeborener Ordnungssinn eingeschrieben ist, welcher selbst in chaotischen Strukturen nach Regularitäten sucht. Ein komplexer geordneter Aufbau dominiert deshalb nicht nur in vielen Bereichen der Natur, wie etwa in der Gliederung einer Schneeflocke, sondern auch in der Architektur, Kunst und im Design.
BAUSATZ IN DER ARCHITEKTUR
Die menschliche Vorliebe für einfache, geometrische Grundordnungen kommt auch in den archaischen Konstruktionen früher Bauwerke zum Tragen. Ein Blick in die Baugeschichte zeigt, dass ein möglichst einfacher tektonischer Aufbau in Form eines vorgefertigten, elementierten Bauens bereits seit Jahrtausenden existiert.
Nomadenvölker waren bereits etwa 400 000 v. Chr. darauf angewiesen, prä- fabrizierte Bauteile aus wenigen Einzelteilen zu entwickeln, um diese nach jedem Ortswechsel möglichst schnell wieder aufbauen zu können. So entwickelten sich leichte, textile Architekturen wie beispielsweise die Jurte. Mit der Sesshaftigkeit entstanden vermehrt dauerhaftere Behausungen aus Ziegel, Naturstein oder Holz. Der vor allem im vorderen Orient ab 3500 v. Chr. verwendete luftgetrocknete Ziegel stellt dabei den ersten künstlichen, vorgefertigten Baustein dar.
In der kolonialen Expansion und im Militärwesen war ein elementiertes Baukastensystem unabdingbar, um schnell zu errichtende und demontierbare Bauwerke zu erstellen. Dabei erwies sich der Holzbau mit seinen zahlreichen Kons- truktionsmöglichkeiten wie dem Ständerbau, dem Blockbau oder auch dem Holzrahmenbau als flexibles tektonisches System. Vor allem in Japan entwickelte sich eine wegweisende modulare Organisationspraxis im Holzskelettbau. Alle Elemente des Bauwerkes fügten sich in ein verbindliches Regelwerk, das auf einem Grundmodul, dem so genannten shaku( 30,48 cm), basierte.
Die industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts widerspiegelte sich auch in der Architektur.
Die Errungenschaften im Eisenbau, wie die Produktion von Gusseisen in grossen Mengen und hoher Qualität, waren einer allgemeinen Industrialisierung des Bauwesens förderlich und bewirkten eine Loslösung von der Holzkonstruktion. Bisher nur dem Maschinenbau vorbehaltene Rationalisierungsprozesse wie die serielle Produktion, die Vereinheitlichung von Massen und Formen und der Einsatz von vorgefertigten Elementen wurden nun auch in der Architektur angewendet. Besonders deutlich wird dies im Crystal Palace, dem von Joseph Paxton( 1803 – 1865) erbauten Gebäude für die Weltausstellung in London im Jahre 1851. Paxton entwickelte ein durchdachtes Bausystem, in dem auf der Grundlage einer modularen Ordnung möglichst wenig verschiedene standardisierte Bauteile zu einem Skelett zusammengesetzt wurden. Dabei prägten pragmatische Entscheidungen den architektonischen Ausdruck. So entsprach das Grundmodul der Skelettkonstruktion der maximalen Grösse einer damals produzierbaren Glassscheibe. Der Glaspalast war wegweisend für eine gelungene Zusammenarbeit von Architekt, Ingenieur und Industrie und eröffnete neue Möglichkeiten des industriellen, rationalisierten Bauens.