EDITORIAL
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
momentan scheint zu gelten: Je weiter die EU weg ist, desto attraktiver wirkt sie.
In den EU-Gründerstaaten herrscht Europamüdigkeit und Skepsis. Die Ukrainer dagegen schwenkten blaue Europaflaggen, als sie im Winter ihren Aufstand
gegen die Staatsmacht begannen. Und auch in anderen EU-Anrainerstaaten wie
auf dem Balkan ist die Sehnsucht nach europäischen Institutionen, westlichen
Werten und Demokratie nach wie vor groß.
Dass Hoffnungen und Enttäuschungen sehr dicht beieinanderliegen, weiß
wohl kaum jemand besser als die Bürger der neuen Mitgliedsstaaten im Osten
Europas, die seit 2004 der EU beigetreten sind. Um sie geht es in diesem Heft.
Vieles, wovon Polen, Balten oder Slowenen damals träumten, hat sich zehn
Jahre nach der EU-Erweiterung nicht erfüllt: Noch immer ist der Lebensstandard in vielen Regionen so niedrig, dass massenhaft Ärzte und Fachkräfte abwandern und in Osteuropa fehlen. Noch immer lässt sich in Deutschland oder
Großbritannien mit angeblicher „Armutsmigration“ Stimmung machen. Und
der Fall Ungarn macht deutlich, wie wenig die EU ausrichten kann, wenn eine
Regierung europäische Werte systematisch verletzt.
Doch die Reportagen und Porträts in diesem Heft zeigen auch: Gerade jetzt
in der Krise lohnt sich der Blick in Europas Osten. Die Generation, die in den
vergangenen zehn Jahren die Freizügigkeit genutzt und Europa kennengelernt
hat, geht nun in ihrer Heimat gegen korrupte Regierungen und Missstände auf
die Straße. Mit Pragmatismus und Optimismus haben viele Osteuropäer die Ärmel hochgekrempelt und die Auswirkungen der Eurokrise bewältigt.
Die lettische Strumpffabrikantin, die bulgarische Umweltaktivistin oder der
rumänische Pfleger, der Senioren im Ruhrgebiet betreut: Sie alle zeigen, dass
der Kontinent im Alltag weiter zusammengewachsen ist, als es das deprimierte
Selbstbild Europas derzeit vermuten lässt.
Sonja Volkmann-Schluck
Redaktionsleitung
3