Suchtreport 2019 – CRAFT Neue Wege in der Suchttherapie 2019-08-26_suchtreport_2019 | Page 13
Co-Abhängigkeit: ein Begriff mit Folgen
Gut belegt ist mittlerweile, dass Angehörige von Suchtkranken über klinisch
bedeutsam erhöhte gesundheitliche Belastungen klagen, die sich u.a. auch
in medizinischen Behandlungskosten wiederspiegeln. Die Belastungen An-
gehöriger Suchtkranker werden in der populärwissenschaftlichen Literatur
meist mittels des Konzeptes der «Co-Abhängigkeit» beschrieben, nach dem
die Versuche Angehöriger, den Suchtkranken vor den Auswirkungen seines
Konsums zu schützen (z. B. durch Anrufe beim Arbeitgeber, finanzieller
und persönlicher Unterstützung), Bestandteil einer bestimmten Persönlich-
keitsstruktur darstellen. Diese Behauptung konnte jedoch wissenschaftlich
nicht belegt werden: die bei Angehörigen gefundenen Beeinträchtigungen
betreffen die gesamte Breite dysfunktionaler Symptome und beinhalten
grösstenteils stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und
somatoforme Störungen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Konzept der
«Co-Abhängigkeit» oft dahingehend verwendet wird, den Menschen im
Umfeld von Abhängigen eine (Mit)schuld an der Entwicklung der Krankheit
zuzuschreiben. Bei Angehörigen verbreitete Schuld- und Schamgefühle
werden somit verstärkt.
Die mit dem Co-Abhängigkeitskonzept verbundenen Postulate führen zudem
in der Versorgung dazu, dass die anzustrebenden Therapieziele schlimms-
tenfalls unabhängig von den Wünschen und Bedürfnissen der Angehörigen
definiert werden: die Titel populärer Ratgebern wie «In Liebe loslassen» oder
«Ich befreie mich von deiner Sucht» machen deutlich, dass als einziges legi-
times Ziel die Abgrenzung vom Suchtkranken angesehen wird. Dementspre-
chend wird Angehörigen von Behandlung ablehnend gegenüberstehenden
Menschen mit Suchtproblemen oftmals lediglich die Trennung (bzw. «Hilfe
durch nicht-Hilfe») angeraten; diejenigen, die diesen Schritt nicht gehen
wollen oder können, finden nur schwer Unterstützung. Der Wunsch nach
einer aktiven Beeinflussung des Abhängigen wird demgegenüber selbst als
Symptom der «Co-Abhängigkeit» angesehen. Allerdings: selbst wenn diesen
Angehörigen eine Stärkung eigenständiger Aktivitäten und eine bessere Ab-
grenzung gegenüber dem Trinkverhalten gelingt, bleibt doch eine chronisch
stressbehaftete Situation bestehen und damit die Gefahr weiterer psychischer
und gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Zusätzlich ignoriert das Modell die
unter Umständen sehr realen Bedrohungen auch für die Angehörigen, die sich
aus suchtbezogenen Schwierigkeiten ergeben können (z.B. massive finanzielle
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