Sonntagsblatt 6/2015 | Page 11

• Zeitgeschehen – Zeitgeschichte – Geschichte •

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BÉLA BELLÉR( Ein Aufsatz aus dem Jahre 1990)

Die ungarische Nationalitäten- Schulpolitik von der Ratio Educationis bis heute

3. Teil
Zwischen den beiden Weltkriegen
An der Nationalitätenpolitik der Revolutionsjahre 1918 / 19 hat vorerst auch die machtergreifende Konterrevolution, der sogenannte weiße Terror nichts geändert. Erstens deshalb, weil die Na- tionalitäten auf die revolutionäre Errungenschaften bestanden, zweitens, weil die Konterrevolution zur Erweiterung ihrer engen gesellschaftlichen Basis die Unterstützung der kleinbürgerlichen Massen der Nationalitäten benötigte. Der dritte Grund war, dass man in der Bestrebung, die Sympathie der Nationalitäten zu behalten bzw. zurückzuerobern auf die neue Nationalitätenpolitik nicht verzichten konnte, welche mit der alten, die Nationalitäten unterdrückenden Politik brach.
Den neuen Kurs in der Nationalitätenpolitik sollten die 1919 / 20 erbrachten Verordnungen, unter ihnen u. a. die Gleichberechti- gung der Nationalitäten betonende Verordnung Nr. 4044 / 1919. ME dokumentieren, welche man nach dem Namen des Ministers für Minderheiten, Jakob Bleyer-Verordnung nannte. Diese Ver- ordnung weitete zweifellos die Rahmen des XLIV. Gesetzartikels vom Jahre 1868. Dies erkannte man an ihren Grundsätzen, an der Anerkennung der selbständigen nationalen Eigenheiten nicht ungarischer Völker, als auch an ihren praktischen Konsequenzen, an der Verbreitung des Gebrauchs der Nationalitätensprachen im öffentlichen Leben, und auch an der Sicherung der ökonomischen und kulturellen Autonomie, sowie der Möglichkeiten der Intel- ligenz der nationalen Minderheit. Dieser Charakter ist durch die Herausgabe von fachministerialen Verordnungen( als Voll strek- kung der Grundverordnung) im Laufe der Jahre 1919 / 20 noch weiter unterstrichen worden, u. a. in der Verordnung Nr. 209494. VKM, welche den Muttersprachenunterricht in der Grund stufe der Schulen sicherte.
Der weiße Terror und seine Nationalitätenpolitik war von nicht langer Dauer. Durch die Annäherung der Klasse der Großgrund- besitzer an das Großkapital und durch die Verdrängung der Mittelschichten – unter ihnen auch der Mittelschicht der Natio- nalitäten – von der Macht, büßte das System ihre gesellschaftliche Basis ein. Der am 4. Juni 1920 unterzeichnete Frieden von Tria- non hieß die Abtrennung aller durch Nationalitäten dicht besiedelten Gebiete – sogar bedeutender ungarischer Gebiete – gut. Die nationalistisch eingestellte öffentliche Meinung schrieb die Verstümmelung des Landes nicht der allzu strengen und konservativen, sondern einer allzu milden und liberalen Nationalitä- tenpolitik zu. Dieser Umstand führte 1920 zum Sturz des Mi- nisters Jakob Bleyer und zur allmählichen Liquidierung seiner Nationalitätenpolitik. Der Friedensvertrage von Trianon gestaltete das vielsprachige historische Ungarn zu einem der homogensten Nationalstaaten ganz Ost-Europas um. 89 % seiner Bevölkerung, d. h. 7 147 053 Men schen hatten ungarische Muttersprache. Die 551 211 Seelen zählende größte Nationalität der Deutschen machte auch nur 6,9 % der Bevölkerung aus. Die anderen Nationalitäten zusammengefasst stellten nur 3,5 % der Gesamtbevölkerung dar. Die 141 888 Slowaken machten 1,8 %, die Rumänen mit ihrer Zahl von 23 760 0,3 %, die insgesamt 1500 Karpato-Ukrainer 0,001 %, die
Kroaten 36 858 an der Zahl 0,5 %, die Serben mit 17 131 – 0,2 % und die 60 748 Personen zählende weitere Nationalitäten insgesamt 0,7 % aus. Auch nach Trianon ist nicht mehr zu der alten konservativen Nationalitätenpolitik zurückgekehrt worden. Auch wenn die un- ga rischen herrschenden Klassen, gezwungen durch die momentane Lage, auf die Zurückeroberung der abgetrennten Gebiete, auf eine Revision verzichteten, gaben sie dies perspektivisch nicht auf, machten diese Ziele sogar zum Leitprinzip ihrer Außenpolitik. Die revisionistische Außenpolitik konnte aus Hinsicht der Bearbeitung der zur Zurückkehr gelockten Nationalitäten, der an der Angelegenheit interessierten Mächten und der Weltöf fent- lichkeit auf eine moderne, gewinnende und liberale Natio nali- tätenpolitik nicht verzichten.
Die Konzeption einer neuen Nationalitätenpolitik nahm An- fang der langen Regierungszeit des Grafen István Bethlen in den Jahren 1923 / 24 konkrete, verfassungsrechtliche Formen an. We- gen der Durchführung der im Trianoner Friedensvertrag angenommener Verpflichtungen erbrachte man zum Schutz der Min- derheiten die Verordnung Nr. 4800 / 1923 ME, die sogenannte Beth lensche Verordnung. Diese erklärt u. a. die Gleichberechti- gung der Staatsbürger „ ohne Unterschied hinsichtlich der Rasse, Sprache oder Religion”, und regelt in ziemlich liberalem Geist den Sprachgebrauch der Staatsbürger. Der Gebrauch der Nationa- litätensprachen wird in den von Nationalitäten gegründeten Schu- len erlaubt, „ teils oder ganz” kann sie auch gebraucht werden in staatlichen- und Gemeindeschulen bei mindestens 40 Schul- pflichtigen, wenn das die Eltern ausdrücklich wünschen. Die Ver- ordnung erteilt den Nationalitäten auch das Recht, kulturelle oder wirtschaftliche Vereine zu gründen. Aufgrund obiger Verordnung ist der konkrete Rahmen und die organisatorische Form des Nationalitätenunterrichts durch die von Kultusminister Graf Kuno Klebelsberg am 23. August 1923 herausgebrachte Verord- nung Nr. 110 478 / 1923 VIII. a. festgelegt worden. Die Verordnung kreierte drei Volksschultypen, von denen die Selbstverwaltungs- organe und die Eltern frei wählen durften: 1. Schulen mit Na- tionalitätensprachen und dem obligatorischen Unterricht des Un- garischen Typ A); 2. Schulen mit gemischter Unterrichtssprache: Muttersprache und die ungarische Sprache( Typ B) und zuletzt 3. Schulen mit ungarischer Unterrichtssprache und dem obligatorischen Unterricht der Nationalitätensprachen( Typ C).
Die Verordnung rechnete mit der realen Differenziertheit des Sprachanspruchs der Nationalitäten Ungarns, und neben der Muttersprache mit dem unterschiedlichen Grad der Sprachkennt- nis des Ungarischen. Anspruch auf reinen Muttersprachenunter- richt( also Typ A) erhoben u. a. die selbstbewusstesten Mitglieder, die Intelligenz und die klein- und mittelbürgerlichen Schichten der Nationalität. Die Identität dieser Schichten ist meistens durch die geschlossene Siedlung oder durch die Ausstrahlung der gleichen Nationalität außerhalb der Grenze gestärkt worden. Interesse für den Typ B bekundeten in erster Linie die sich in das ungarische wirtschaftliche und kulturelle Leben eingliedernden, die ungarische Sprache sprechenden zweisprachigen Schichten. Mit dem Typ C begnügten sich jene, die sich schon im Endstadium der Madjarisierung befanden, denen die bescheidene Pflege der Nationalitätensprache nur noch Tradition war als dass sie lebensgestaltender Faktor gewesen wäre.
Die Nationalitätengesetzgebung der Bethlen-Regierung schloss der II. Gesetzartikel vom Jahre 1924 ab. Im Interesse dessen, dass in zwei Jahren auf Nationalitätengebieten nur jene Beamten wir-
( Fortsetzung auf Seite 12)
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