Sonntagsblatt 4/2020 | Page 9

die Historikerin Ágnes Tóth ehren wollen , spontan dieser Kontext ein ?
Wenn ich an die jüngere Geschichte der Ungarndeutschen und an deren schleppende korrekte Aufarbeitung von 1945 bis in die Vorwendezeit denke , fallen mir einige Historikernamen ein , deren diesbezügliche Veröffentlichungen zum wichtigen Teil meines historischen Wissens wurden . Im Geschichtsunterricht , geschweige denn aus den Medien erfuhren wir damals über unsere Geschichte fast gar nichts . Deshalb war ich , als ich die deutschsprachige Erstveröffentlichung des Protokolls der Allparteienkonferenz las , emotional elektrisiert .
Ebenso mit der vor einigen Jahren von ihr herausgegebenen und vorbildlich aufbereiten ( im Grunde zweisprachigen ) Quellensammlung zur jüngeren Geschichte der Deutschen in Ungarn . Ein wichtiges , längst fälliges Werk ! Viele andere ihrer Publikationen hierzu könnten aufgeführt werden .
Die SUEVIA PANNONICA - Vereinigung Ungarndeutscher Akademiker e . V . Heidelberg würdigt mit ihrem Wissenschafts-Preis Frau Dr . Ágnes Tóth für ihre Lebensleistung in der Erforschung der jüngeren Geschichte der Ungarndeutschen . Durch ihr beharrliches Bemühen und ihr ausgewogenes Suchen nach der historischen Wahrheit und Gerechtigkeit hat sie sich verdient gemacht . Dafür sprechen wir ihr unsere Anerkennung und unseren Dank aus .
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Noch viele weiße Flecken
Interview mit der Historikerin Dr . Ágnes Tóth über ihren Weg zu den Ungarndeutschen , ihre Entfernung von der Spitze des Stiftungslehrstuhls in Fünfkirchen und Pläne für die Zukunft
SB : Frau Dr . Tóth , Sie sind in einer madjarischen Familie geboren – was hat Sie dazu bewogen sich mit der ungarndeutschen Geschichte zu beschäftigen ?
Alles , was bis dahin von den maßgeblichen politischen Machthabern , den linientreuen Historikern und den medialen Meinungsbildnern über 40 Jahre nach der Vertreibung in unserem Land bestimmt und als dogmatische Wahrheit vorgegeben wurde , brach wie ein Kartenhaus , wie ein schiefes Lügengebäude in sich zusammen . Das viel beschworene Potsdamer Diktat der Sieger zur Vertreibung der Ungarndeutschen wurde als eine Potsdamer Legende entlarvt ( wie es Béla Bellér trefflich formulierte ). Das Ereignis , die Veröffentlichung des Protokolls fast 40 Jahre nach der Vertreibung , wurde zum historischen Moment des dann beginnenden Paradigmenwechsels in der ungarischen Aufklärung der Vertreibungsgeschichte . Ágnes Tóth hatte wesentlichen Verdienst an dieser Entwicklung . Geist und Diktion der Protokolle bedeuteten für viele - auch für mich - Bestürzung . Bestürzung wegen dem Ausmaß und der Unerbittlichkeit , mit der alle Parteien und fast alle maßgeblichen geistigen und politischen Akteure die Schuld für die Katastrophe , die auf unser Land nach der Kriegsniederlage hereinbrach , auf die Schwaben schoben und lautstark ihre kollektive Bestrafung forderten . ( Ein hetzerisches Verdikt von vielen : „ Zugrunde gerichtet haben uns die vaterlandsverräterischen Schwaben “„, wie es Monsignore Béla Varga ( P . Kleinlandwirte ) damals in seiner Brandrede auf seiner Wahlveranstaltung am zentralen Platz von Fünfkirchen lauthals verkündete .)
Das Allparteien-Protokoll wurde von der damaligen Ketschkemeter Komitats-Archivarin Ágnes Tóth veröffentlicht , nachdem es 40 Jahre der Öffentlichkeit vorenthalten wurde . Mit den Intentionen des Protokolls wurde jener böse Geist aus der Flasche gelassen , indem dann ein halbes Jahr später vom Ministerrat der ersten frei gewählten Nachkriegsregierung die kollektive Vertreibung der deutschen Bevölkerung beschlossen und nur vier Wochen später mit der Ausführung begonnen wurde .
In unser ungarndeutsches historisches Blickfeld trat Ágnes Tóth mit der Entdeckung und Veröffentlichung des Protokolls der Allparteienkonferenz . Es war ein mutiger Schritt von der jungen Historikerin ! Die Veröffentlichung wurde zur initiativen Wegmarkierung für die nachfolgende Geschichtsschreibung im Kontext des Ungarndeutschtums . Für uns bleibt dieser historische Markstein mit dem Namen und der Person von Ágnes Tóth verbunden .
SoNNTAGSBLATT
ÁT : Ich habe mein Hungaristik-Geschichts-Studium in Segedin absolviert . Danach war ich ein Jahr lang in einer Bibliothek in Ketschkemet beschäftigt , bevor ich ins Komitatsarchiv wechselte . Einen konkreten Wunschthemenbereich hatte ich zwar nicht , aber mir war klar , dass ich mich in der Zukunft mit der neuesten Geschichte Ungarns , genauer gesagt mit den gesellschaftlichen Veränderungen nach 1945 beschäftigen möchte . Es bedeutete Mitte der 1980er Jahre eine große Freiheit für mich , dass ich als Archivarin in die Kiste reinschauen durfte , in die ich nur wollte . Eine neue , für mich bislang unbekannte Welt tat sich auf . Ich war erst einige Wochen im Staatsarchiv , als Michael Kővári auftauchte , seinerzeit Museumsdirektor in Baaja , von Beruf Archäologe , aber mit einem breiten Spektrum an Interessen . Mit Coautoren begab er sich hin und wieder in bestimmte Bereiche der Literaturgeschichte , Numismatik oder der Geschichtswissenschaften . Wir kamen ins Gespräch und er erzählte , dass er in eine Schwabenfamilie in Katschmar / Katymár hineingeboren wurde und als Kind miterleben musste , wie die Großeltern mütterlicherseits vertrieben wurden , was bei ihm das Interesse weckte zu erfahren , wie die Vertreibung vor Ort vonstattenging . Er habe keine Zeit mehr dafür , ob ich nicht Lust hätte , dem nachzugehen , fragte er .
So begann es … Man könnte sagen , dass es dem Zufall geschuldet war , dass ich anfing , mich mit der neuesten Geschichte der Ungarndeutschen zu beschäftigen – wohlgemerkt glaube ich an Zufälle überhaupt nicht .
SB : Die politische Wende jährt sich heuer zum 30 . Mal - Sie waren damals am Anfang Ihrer Karriere . Wie haben Sie die Wendezeit erlebt , auch als Wissenschaftlerin ?
ÁT : Voller Hoffnungen , Begeisterung und vieler Erwartungen , die sich aus heutiger Sicht als illusorisch erwiesen ! Aus Forschersicht hatte die Wende sehr positive Effekte , denn dank dem neuen Archivgesetz wurde nun nicht mehr nur einem elitären Kreis der Wissenschaftler , die als zuverlässig befunden wurden , ermöglicht , bestimmte Unterlagen in den Archiven einzusehen . In diesen Jahren gelangte eine Unmenge an Materialien aus dem Außen- und Innenministerium in die Archive , und die Parteiarchive und Stasiunterlagen konnten auch durchforstet werden . Die Geschichtswissenschaft wendete sich , durfte sich bislang tabuisierten Themen zuwenden .
( Fortsetzung auf Seite 10 )
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