Sonntagsblatt 4/2020 | Page 2

„ Das ist das Wunder der Heiligen Nacht , dass in die Dunkelheit der Erde die helle Sonne scheint .”
2
Leitartikel
- Friedrich von Bodelschwingh
Wo der Schuh drückt
Die deutsche Gemeinschaft steht vor gewaltigen Herausforderungen
Von Richard Guth
Oft hat man als ( Hobby- ) Journalist das Gefühl , zu wenig Kontakt zur Basis zu haben , so dass man sich dementsprechend Themen widmet , die einige als abgehoben und die Gemeinschaft nicht betreffend empfinden . Nun hatte ich dank einer „ Kampagne ” des Sonntagsblattes die Möglichkeit , Eindrücke und Empfindungen unserer gewählten Vertreter in den Nationalitätenselbstverwaltungen kennen zu lernen , die durchaus ein Spiegelbild der Lage der Nation - oder besser gesagt Nationalität - sind .
In den folgenden Zeilen wird es um allgemeine Trends und Entwicklungen gehen , denn Ziel war ja nicht , die Vertreter „ auszuhorchen ”, sondern sie zu kontaktieren , um zu erfahren , ob unser Sonntagsblatt auch sein Ziel erreicht , das „ deutsche Volk in Ungarn ” über aktuelle Entwicklungen zu informieren .
Das leidige Thema „ Demografie “
Es ist allgemein bekannt , dass die Bevölkerung Ungarns seit 1981 schrumpft . In den letzten vierzig Jahren bedeutete das einen Verlust von knapp einer Million Seelen , also fast zehn Prozent der Bevölkerung . Entscheidend dabei ist ein Defizit zwischen Geburten und Todesfällen in der Größenordnung von 30.000-40.000 Menschen pro Jahr , was , wie ungarische Demografen es formulieren , der Bevölkerung einer ungarischen Kleinstadt entspricht . Betrug die Zahl der Geburten in meinem Geburtsjahr 1977 knapp 250.000 , sank sie bis 1989 auf 125.000 und rasch – infolge des Transformationsprozesses – auf deutlich unter 100.000 . Die Zahl um 90.000 plus-minus ist seitdem stabil geblieben , trotz des markanten Ausbaus der Familienförderung – in erster Linie im Kreise der Erwerbstätigen mit Steuerpflicht – seit 2010 ( Orbán I-III ), was an die Kádár-Ära der Siebziger erinnert , aber mit viel bescheideneren demografischen Erfolgen . Die Zahl der Todesfälle folgte diesem Trend nicht und verharrt auf hohem Niveau . Bei vielen Krankheitsbildern ( Herz-Gefäß- sowie Krebserkrankungen ) ist das Land führend in der Welt , was ja mit einer ungesunden Lebensführung der ungarischen Bevölkerung zu tun hat - von den mentalen Zerreißproben einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft jetzt ganz zu schweigen .

Davon ausgenommen sind mit Sicherheit auch die Minderheitenangehörigen nicht , wenngleich wir über viel weniger verlässliche Daten über sie verfügen . Die Statistiken zeigen im Falle der ungarndeutschen Gemeinschaft Zeichen einer deutlichen Überalterung : Während die Altersgruppe der Über-Sechzigjährigen ( heute wohl Über-Siebzigjährigen ) deutlich überrepräsentiert ist , finden sich bei den Unter-Achtzehnjährigen ( wo es ja naturgemäß sehr stark um eine elterliche Bestimmung der Nationalität geht ) kaum Bekenner zur deutschen Nationalität . Auch wenn später auch einige zu ihrer deutschen Identität gelangen bzw . gelangen werden , scheint die Zukunft unter demografischen Gesichtspunkten nicht nur für die Mehrheitsbevölkerung düster zu sein . s

Ab- und Zuwanderung verändert das Gesicht „ unserer ” Gemeinden
Auch wenn es noch Gemeinden im ganzen Land gibt , wo die Deutschen die Mehrheit ( oder sogar über 80 %) der Bevölkerung stellen , überwiegen die Kommunen , in denen – auch durch die Vertreibung bereits in ihrem Charakter als schwäbische Gemeinden geschwächt – in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein markanter Wandel stattfand : „ Es sind viele Alte gestorben ”, habe ich oft von den Vertretern der Selbstverwaltungen gehört und mit den „ Alten ” sind die alteingesessenen Mundartsprecher gemeint , die Sprache , Kultur und teilweise Identität von zu Hause mitbringen . Ihre Kinder und Enkel wohnen oft nicht mehr im Dorf , haben ihre Heimatgemeinde in den letzten Jahren und Jahrzehnten verlassen , um in der nahegelegen Stadt oder gar weiter entfernt ihr Glück zu suchen . Die Politik der Ausblutung der Provinz in der kommunistischen Ära - eine sanftere Variante der Dorfzerstörung a là Ceauşescu in den Achtzigern - trug nach der Wende voll ihre Blüten : Der Verlust der verbliebenen Arbeitsplätze in den kleineren Firmen und den LPGs zwang einen Teil der verbliebenen , aber stark dezimierten Bevölkerung , den Heimatort zu verlassen . Die Wendezeit brachte hierbei eine Ausweitung des Horizonts : Viele zogen / ziehen nicht mehr in die größeren Städte oder nach Budapest , sondern gleich ins Ausland ; die Nummernschildvielfalt bei heimischen Volksfesten wie der Kirmes zeugt auch davon . Viele Junge , aber auch Ältere planen dabei ihre Zukunft bereits im Ausland , und wenn die Rückkehrbereitschaft im Kreise der Mehrheitsbevölkerung , so einschlägige Studien , gering ist , warum sollte es bei uns anders sein ?
Es gibt aber auch eine andere Tendenz , die „ unsere ” Dörfer prägen ( wobei es natürlich immer schwer ist , alle Gemeinden über einen Kamm zu scheren – deswegen schreibe ich stets von Trends , die viele Gemeinden und nicht alle (!) betreffen ): Der Zuzug von Familien , die sich zum Teil deswegen ein Haus auf dem Lande zulegen , weil es auf dem Lande günstiger zu erwerben ist . Diese Menschen , wenn sie im demografischen Sinne willkommen für die Dörfer sind , verändern oft deren Gesicht . Die Neubürger haben nach Erfahrungen der Selbstverwaltungsvertreter in der Regel kaum Bindungen zur deutschen Nationalität , wenngleich es durchaus welche unter ihnen gibt , die sich offen für dieses Erbe zeigen und ihre Kinder auf Nationalitätenschulen schicken – wenn es die überhaupt noch gibt .
Wenn das Dorf stirbt
Wegen Abwanderung , Überalterung und fehlender Zuwanderung schließt über kurz oder lang die Schule . Um ihrer Schulpflicht nachzukommen , werden die verbliebenen Schüler in nahe gelegene Orte gefahren . Die Schließung der Schule wird oft begleitet von der Schließung der örtlichen Sparkassenfiliale , des Dorfladens , der Post - und auch der Herr Pfarrer , der zehn und mehr Gemeinden zu betreuen hat , kommt auch nur noch selten in den Ort . Hausarztpraxen bleiben unbesetzt . So verschwinden auch die Akademiker aus dem Ort , allen voran die Deutschlehrerinnen , die vielfach Trägerinnen des lokalen ( deutschen ) Kulturlebens sind . Oft habe ich die Erfahrung gemacht , dass man „ auf ‘ m Amt “ auch nicht immer jemanden erreicht . Weniger Einwohner bedeuten zwar nicht unbedingt weniger Aufgaben , aber auf jeden Fall weniger staatliche Unterstützung und so weniger Finanzmittel , die man zum Wohle der Bevölkerung einsetzen kann . So schränkt man zwangsläufig die Öffnungszeiten ein und schließt sich zu „ körjegyzőség ” zusammen - einer Art Magistratsgemeinschaft . Der Hauptamtsleiter ( jegyző ) eines Magistrats betreut dann mehrere Gemeinden . Diesen Wandel hat man in Deutschland bereits in den 1970er Jahren vollzogen ; so wurden aus zuvor eigenständigen Gemeinden Ortsteile und aus stolzen Bürgermeistern Ortsvorsteher . Das war eine politische Entscheidung , die man in Ungarn wohl irgendwann auch wird treffen müssen , wenn die Trends anhalten .
SoNNTAGSBLATT