Sonntagsblatt 4/2020 | Page 19

Besser ist es nach Eindruck einer Käseverkäuferin in der Markthalle von Kolmar / Colmar um die Hochdeutschkenntnisse bestellt , denn jeder könne sich irgendwie - auf welchem Niveau auch immer - auf Hochdeutsch verständigen . Die frankophone ältere Dame im Hintergrund nickt dabei . Die junge Käseverkäuferin hat es aber leicht , denn sie hat nach eigenem Bekunden in Berlin ihr Abitur gemacht , was man sofort merkt . „ Im Rest von Frankreich ist es anders , da würde mehr Englisch gesprochen ( da kommen mir die beiden Kolleginnen aus der Bäckerei in den Sinn , ohne zu behaupten , dass ich selber perfekt in Englisch wäre ), aber im Elsass würde viel Deutsch gesprochen ”, erzählt die Frau Anfang 30 .
Deutschkenntnisse hin und her , dominiert wird die Landschaft von französischsprachigen Aufschriften , Verkehrsschildern und Werbetafeln . Lediglich die Straßenschilder in den Innenstädten und die Familiennamen , die allesamt Deutsch klingen , zeugen von der germanischsprachigen Vergangenheit ( eher so ) der Region .
„ Himbeer , Erdbeer , Caramel ” - der liebliche französische Akzent der Verkäuferin im Süßwarengeschäft im pittoresken Winzerdorf Reichenweier / Riquewir deutet auf deutsche Präsenz hin , jedenfalls in Form von Tagestouristen aus Baden-Württemberg und der Deutschschweiz , hier in der Gestalt der Baseler .
Dieser Austausch , in Corona-Zeiten etwas gedämpft , ist aber nicht einseitig – davon zeugen die Baseler Nummernschilder im Kreis Lörrach und die französischen in den Landkreisen Hochschwarzwald-Breisgau und im Ortenaukreis . Der Einkaufstourismus floriert in den baden-württembergischen Landkreisen ; die verhältnismäßig moderaten Preise , gerade im Vergleich zu denen in der Schweiz , locken viele über die Grenze .
Aber zurück ins Elsass . In Reichenweier scheint – trotz touristischer Vermarktung – die Weinbaukultur noch lebendig zu sein . Gerade fährt ein älterer Weinbauer mit seinem mit Fässern gefüllten Miniwagen vorbei , an anderer Stelle wirbt ein Weingut mit einem Inhaber , der einen französischen Vornamen und einen deutsch klingenden Familiennamen besitzt , um Kundschaft . Die Wirtschaftsregion ist neben der Hauptstadtregion Île de France die zweitstärkste in Frankreich und das merkt man auch am äußeren Erscheinungsbild der Städte und Dörfer – durchweg herausgeputzt und aufgeräumt , gerade im ländlichen Raum . Der Tourismus , einer der wichtigsten Wirtschaftszweige , hat in diesen Monaten schwer zu kämpfen , davon zeugen die nahezu touristenleeren Straßen in Straßburg und Kolmar sowie die verwaisten Terrassen der Restaurants , von denen an diesem Oktoberfreitag viele geschlossen haben .
Es fehlt an Touristen , was in Corona-Zeiten nicht verwunderlich ist , war doch die 2015 geschaffene Großregion Grand Est Mitte März die Region in Frankreich , die am schwersten von CO- VID-19 betroffen war . Auch wenn Grand Est , zu der auch das Elsass gehört , in der „ zweiten Welle ” zur einzigen Region in Kontinentalfrankreich gehört , die nicht als Risikogebiet ausgewiesen ist ( bis Mitte Oktober jedenfalls ), ist man vorsichtiger geworden . Ob sich die Plätze , Cafés und Restaurants wieder mit Gästen füllen werden , werden die nächsten Monate bzw . Jahre zeigen . Viele sprechen von einer nachhaltigen Veränderung unseres Reiseverhaltens .
Was jedoch bleibt , ist das Phänomen Pendeln . Hierbei ist Untersuchungen zufolge ein Pendeln aus Frankreich nach Deutschland ( und dann insbesondere aus Frankreich und Deutschland in die Schweiz ) viel charakteristischer als umgekehrt , was die Stärke des Industriestandorts Baden-Württemberg mit zahlreichen Weltmarktführern ( so genannten Global Players ) zeigt . Aber auch hier zeigen Studien eine rückläufige Tendenz , was die Autoren möglicherweise mit dem Rückgang der Deutschsprachkenntnisse mit in Verbindung bringen . Dies trifft jedenfalls auf
SoNNTAGSBLATT den Herrn Mitte Fünfzig nicht zu , der mir im Parkhaus netterweise den Weg weist , denn er spricht schönstes Deutsch . Ob er auch Berufspendler war oder nur ein Alteingesessener , dies kann ich nicht mehr in Erfahrung bringen , denn einer hupt , damit ich den Weg vor der Schranke freimache . Da merkt man : Wir sind doch in Frankreich .
Vorwort
Ansichten - Einsichten
Sonntagsblatt-Erstveröffentlichung
Erinnerungen eines Ungarndeutschen
Von Sanitätsrat Dr . Johannes Angeli
So manches kann der Mensch erleben , wenn er über 80 Jahre alt wird , lebte er aber in den letzten acht Jahrzehnten , dann umso mehr . Umso mehr auch , wenn er als Auslanddeutscher vertrieben wurde und schließlich aus der DDR geflohen in der BRD wieder eine neue Heimat gefunden hat ! Vor Jahren hat mein damals 12-jähriger Sohn gelangweilt gestöhnt : „ Ach Papa , bei dir war wenigsten noch was los .” Da konnte ich nur antworten : „ Du weißt doch gar nicht , wie glücklich Du sein kannst , in dieser guten neuen Zeit leben zu können .” Keinesfalls handelt dieser Rückblick - um mit Goethe zu sprechen - um „ Dichtung und Wahrheit “, sondern um Wahrheiten aus den „ Erinnerungen eines Ungarndeutschen “.
Gern hätte ich auf so manche mir aufgezwungene Ereignisse lieber verzichtet , aber die Weltpolitik und ihre Folgen haben den kleinen Mann , hier den kleinen 10-jährigen Jungen mitgerissen , ob er wollte oder nicht . So wurden viele meines Namens aus dem kleinen ungarndeutschen Dorf vom Winde verweht , vom Winde der Weltgeschichte in alle Himmelsrichtungen .
Wie es mir erging , will ich aus der Sicht eines kleinen Jungen , eines Jugendlichen , eines Familienvaters , und schließlich als zurückblickender Rentner aufschreiben – aufschreiben für die , die Ähnliches durchlebten , die uns vielleicht nur verstehen wollen oder gar für die Enkel unserer Zeit und unserer Familien .
Teil 2 : Isszimmer im Zweiten Weltkrieg ( Teil 1 ist in Nr . 3 / 2020 erschienen )
Die großen Veränderungen , die sich politisch und militärisch in Europa und in der Welt in den Jahren anbahnten , berührten lange nicht das Leben im abgelegenen Dorf Isszimmer . Vielmehr ging das Bestreben der Nationalungarn nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg und dem Trianon-Schock verstärkt in Richtung der Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates der Magyaren , da sich ja durch die großen Gebietsverluste ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung deutlich erhöht hatte ( 85 %).
Unter den verbliebenen Minderheiten waren die Deutschen mit rund 550.000 Personen weitaus am zahlreichsten . Da aber das Deutschtum besonders durch die bäuerliche Bevölkerung mit ihren selbständigen , traditionsbewussten Bauern verkörpert wurde , machte ihre Magyarisierung erhebliche Schwierigkeiten . Dieser Assimilationsdruck schuf natürlich eine Abwehrhaltung bis Gegenbewegung , die durch Jakob Bleyer und seinen Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein sowie die Wochenzeitung Sonntagsblatt verkörpert wurde .
( Fortsetzung auf Seite 20 )

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