Sonntagsblatt 4/2020 | Page 10

SB : Die Bilanz der Wendezeit fällt je nach Sichtweise unterschiedlich aus – wie bewerten Sie als Historikerin die vergangenen 30 Jahre ?
ÁT : Diese Frage ist sehr komplex und mittlerweile füllt die Fachliteratur über die Umstände der Wende , die Rolle und die Möglichkeiten der einzelnen Akteure ganze Bibliotheken . Weder die Gesellschaft noch die Führungspersönlichkeiten der politischen Parteien hatten Erfahrungen bezüglich dessen , wie man demokratische Strukturen betreibt . Die Resultate müssen wir deswegen nicht nur zu den Erwartungen , sondern auch zu den Möglichkeiten in Bezug setzen . Aus dieser Perspektive halte ich die paar Jahre der Nachwendezeit und die Leistungen der Gesellschaft und der politischen Machthaber für gar nicht so schlecht . Allerdings haben wir – meiner Meinung nach - aus den vergangenen dreißig Jahren nicht das rausgeholt , was drin war , was möglich gewesen wäre . Ich bin der Auffassung , dass man auch in diesem Falle bei den vorangehenden Epochen die Antwort suchen muss . Gesellschaftliche Attitüden , Mentalitäten verfestigen sich nicht von einem Jahr auf das andere , nicht einmal von einem Jahrzehnt auf das nächste .
SB : Sie werden in ungarndeutschen Kreisen von vielen hochgeschätzt , nicht zuletzt wegen der Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte der Deutschen – wie sind Sie auf dieses berühmte Dokument ( Protokoll der Allparteienkonferenz ) gestoßen ?
ÁT : Meinen Forschungsschwerpunkt habe ich peu á peu ausgebaut . Zuerst habe ich ein Dorf , dann die ganze Region Nordbatschka untersucht und erst danach – dank der bereits geschilderten Ausweitung der Forschungsmöglichkeiten – habe ich angefangen die Unterlagen der Ministerien auszuwerten . Bereits bei der Aufdeckung der lokalen Ereignisse war für mich klar , dass man die Aussiedlung - Vertreibung - der Ungarndeutschen nur teilweise mit dem Potsdamer Beschluss erklären kann . Und obwohl es ohne Zweifel ist , dass die Großmächte durchaus eine Verantwortung tragen dafür , was in dieser Region nach dem Zweiten Weltkrieg mit der deutschen Minderheit geschah , interessierte mich dennoch unsere Verantwortung beziehungsweise die Frage , was die Beweggründe der politischen Machthaber waren . Ich konnte mir systematisch eine große Anzahl von Dokumenten anschauen , was mir ermöglichte , die Bestrebungen auf unterschiedlichen Ebenen miteinander zu vergleichen . Auch für mich wurde in dieser Forschungsarbeit sichtbar , welche Auswirkungen die einzelnen Migrationsbewegungen – die inneren Siedlungsaktivitäten im Zuge der Bodenreform , der slowakisch-ungarische Bevölkerungstransfer – auf die Vertreibung der Deutschen hatten .
SB : Sie sind ja Historikerin , aber erleben sicherlich auch die ungarndeutsche Gegenwart intensiv – wie bewerten Sie die Lage der deutschen Gemeinschaft und was sind die größten Herausforderungen , vor denen diese steht ?
ÁT : Ich denke , die ungarländische deutsche Gemeinschaft hat sich nach der Wende tatsächlich zu einer Gemeinschaft entwickeln und die Möglichkeiten nutzen können , die das Minderheitengesetz über die Formen kultureller Autonomie für sie eröffnet hat . Als große Herausforderung sehe ich an , dass es ihnen ( Anm . der Red .: den Ungarndeutschen ) gelingt , die eigenen Angelegenheiten selber regeln zu dürfen und sich bei den Entscheidungen die Interessen der Gemeinschaften vor Augen zu halten . Ich halte eine Modernisierung der Identität und das Einbeziehen der Jugend für wichtig .
SB : Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut – wie sehen Sie deren Entfaltungsmöglichkeit im Ungarn der Gegenwart ?
ÁT : Ich war ab 2002 beim Institut für Minderheitenforschung ( Kisebbségkutató Intézet ) tätig , das ich von 2010 bis 2012 auch geleitet habe . In vielen Bereichen war und bin ich auch heute noch für Veränderungen . Aber um die umzusetzen hielt ich eine Abtrennung der Institute von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ( MTA ) für überflüssig . Unsichere , unberechenbare Verhältnisse , die schlechte Bezahlung und das existenzielle Ausgeliefertsein spornen keinen zur besseren Leistung an . Ganz im Gegenteil ! Dieser Prozess begann 2012 mit der Gründung der Forschungszentren und dauert auch heute noch an . Es wäre gut , wenn wir endlich in Ruhe arbeiten könnten .
SB : Sie waren von 2015 bis 2020 Leiterin des Stiftungslehrstuhls für Deutsche Geschichte und Kultur im südöstlichen Europa – was waren die Gründe , dass Sie nicht mehr Leiterin des von Prof . Dr . Seewann gegründeten Lehrstuhls sind ?
ÁT : Der Stiftungslehrstuhl wurde von beiden Ländern gegründet , die Uni Fünfkirchen nahm ihn lediglich auf und betreibt ihn . Die ersten fünf Jahre wurden vom deutschen Staat finanziert , danach erklärte sich der ungarische Staat bereit , die Finanzierung zu übernehmen . Der Lehrstuhl wurde von 2007 bis 2014 tatsächlich von Gerhard Seewann geleitet . Als ich den Lehrstuhl übernommen habe , habe ich angesichts einer ganzen Reihe ungeklärter Fragen – eine berechenbare , mindestens mittelfristige Finanzierung , die Umwandlung der Jahresverträge der Mitarbeiter in unbefristete , eine Klärung der Rechte und Pflichten der Philosophischen Fakultät als Trägerin sowie die der Aufgaben , Befugnisse und des Platzes des Lehrstuhls innerhalb der Fakultät usw . - angeregt , diese zu regeln . Dies gelang mir in all den fünf Jahren unter Einbeziehung von diversen Institutsleitern und Dekanen nicht . Die Bedingungen haben sich in gewisser Weise sogar verschlechtert . Arbeiten kann man nach meiner Auffassung nur dann , wenn die Konditionen geklärt bzw . klar definiert sind . In Fünfkirchen gedachten meine Vorgesetzen die Probleme mit der Entfernung meiner Person zu lösen . Die Entscheidung wurde in einem Dreizeiler mitgeteilt . Da ich nur einen befristeten Vertrag hatte - da man meinen Vertrag immer nur um ein Jahr verlängert hat - musste der Arbeitgeber seine Entscheidung nicht begründen .
Da aber in der Zeit , die ich dort verbracht habe , keine Kritik an meiner Arbeit geäußert wurde - die fachlichen Erfolge , denke ich , sprechen für sich - , bat ich den Herrn Rektor , seine Entscheidung doch zu begründen . Eine konkrete Antwort habe ich bis heute nicht erhalten .
SB : Was sind Ihre Forschungspläne / schwerpunkte für die nahe Zukunft ?
ÁT : Wenn Gott will , dann möchte ich die Geschichte der Ungarndeutschen bis zur Wende aufarbeiten , also die Monografie „ Die Deutschen in Ungarn 1950-70 ( Németek Magyarországon 1950- 70 )”, die jetzt erschienen ist , fortsetzen . Auf bestimmte Fragen finden wir nur dann eine Antwort , wenn wir langfristige Prozesse empirisch und mit der Ausführlichkeit untersuchen , wie ich es in diesem Band bezüglich des Untersuchungszeitraums tat . Daneben zeige ich großes Interesse an der Geschichte der Deutschen , die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Jugoslawien nach Ungarn flohen , sowie am Selbstverwaltungssystem und vor allem an dessen Betreibern , den Menschen . Jede Forschungsarbeit wirft weitere Fragen auf , deshalb muss ich mir keine Sorgen machen , jemals ohne Arbeit dazustehen .
SB : Frau Dr . Tóth , vielen Dank für das Gespräch ! Das Interview führte Richard Guth .
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