Sandboden schenkte ihnen selten eine reiche Ernte. Es schuf-
teten alle, Männer wie Frauen und Jugendliche. Nur Kleinkinder
blieben oft zuhause, wobei sie aus Langeweile wohl immer wie-
der Blödsinn in den Vorgärten der Deutschen anstellten. Da aber
die Bildung - im Sinne des böhmischen evangelischen Philoso-
phen Johann Amos Comenius (Komenský): „Jeder soll Bildung
haben!“ - für die Böhmen im Vordergrund stand, sollte bald Abhil-
fe geschaffen werden: und zwar in Form von ganztägigen Lehr-
anstalten: Die Jungen wurden ab 1753 im großen Schulgebäude
unterrichtet, die Mädchen in Scheunen. Der Schulunterricht lief
zweisprachig ab. Außerdem wurde das Textilhandwerk gelehrt.
Bis 1909 bestand die Schule. Im Museum im Böhmischen Dorf,
das heute zwei Räume des alten Lehrgebäudes schmückt, sind
unter den vielen privaten Exponaten auch Schulbilder zu finden.
Allerdings nur gestellte Klassenbilder der Mädchenklassen und
Vorschulgruppen.
Mit der Ganztagsbetreuung der Kinder waren die Konflikte zwi-
schen den Einheimischen und Zugewanderten jedoch nur bedingt
gelöst, wie eine Legende besagt. „Nach Ankunft der böhmischen
Einwanderer gab es immer wieder handgreifliche Auseinander-
setzungen zwischen Deutsch- und Böhmisch-Rixdorfern. Darum
setzten sich die zwei Bürgermeister zusammen, um nach einer
Lösung zu suchen. Um die Aggression der Leute in geordnete
Bahnen zu lenken, führten sie Wettkämpfe im Strohballenrollen
ein“, erzählt Susanne Lehmann vom Museum im Böhmischen
Dorf. Diese Legende ist nicht historisch belegt, aber doch im-
merhin so beliebt, dass es das Strohballenrollen bis heute gibt.
Jedes Jahr im Herbst messen sich Deutsche und auch tschechi-
sche Teams aus der Neuköllner Partnerstadt Ústí nad Orlicí, zu
deren Kreis auch Čermná gehört, in dieser Disziplin. Bisher hät-
ten immer Tschechen gewonnen, so Lehmann. Womöglich weil
sie zuhause am Berg trainierten, während in Berlin alles flach ist.
Lehmanns Großmutter stammte auch aus einer Einwandererfa-
milie aus Čermna, sie selbst ist Mitglied der Brüdergemeinde.
Dort entstand auch einst die Museumsidee: Eine kleine Gruppe
engagierter Frauen um Beate Motel und Cordelia Polinna ent-
schloss sich, 2005 das Heimatmuseum zu eröffnen. Sie gründe-
ten dafür einen Verein und sammelten allerlei persönliche Erb-
stücke.
Butt ist eigentlich Designer, aber „Stadtteilgeschichte und Archiv-
wesen waren immer schon meine Hobbys“. Seit fünf Jahren ret-
tet, ordnet, erhält und schützt er nun das Archiv des Böhmischen
Dorfes. Im vorigen Jahr trat er selbst der Brüdergemeinde bei.
„Vor allem durch die Lebensläufe habe ich Zugang zu so intimen
Bereichen der Menschen hier, dass es für mich eine Frage des
Vertrauens war, auch selbst Gemeindemitglied zu werden.“
Über 500 Lebensläufe aus bald drei Jahrhunderten liegen bei
ihm, darunter auch die der Böhmen, teils noch in tschechischer
Sprache. Auch die zeitgenössischen Texte kommen zu ihm
- nachdem sie zehn Jahre nach Versterben des Autors im Ge-
meindebüro gelegen haben. Außerdem hilft er älteren Menschen
beim Verfassen. Und der eigene? „Ja, der entsteht schon im
Kopf“, lacht Butt. „Ich denke, den schreibe ich dann einmal ein-
fach runter, wenn ich Zeit habe.“
Die Lebensläufe zeigen auch: Die Brüdergemeinde lebte lange
als Kommunität. Das Gleichheitsgebot hatte Priorität. Während
die Kinder in der Schulgemeinschaft lebten, arbeiteten Frauen
wie ihre Männer und konnten auch hohe Kirchenämter einneh-
men. Erst mit dem Tod Zinsendorfs Ende des 18. Jahrhunderts
wurden viele Freiheiten zurückgenommen, angeblich um nicht
zur Sekte erklärt zu werden. Denn nach ihrer langen Verfol-
gungsgeschichte wollten die böhmischen Gläubigen vor allem
eines: anerkannt werden. Das haben sie erreicht, opferten dafür
jedoch ihre progressiven Ansichten. Heute sind sie als einzige
Glaubensgemeinschaft Teil der evangelischen Landeskirche und
der Freikirchen.
Das zeigt auch der zweite wichtige Ort im Dorf für Butt: der Böh-
mische Gottesacker, direkt an der heute hektischen Karl-Marx-
Straße gelegen. Die eine Hälfte ist mittlerweile ein moderner
Friedhof, auf der anderen wird noch nach Tradition der böhmi-
schen Brüder beerdigt: mit einer Grabplatte flach auf dem Bo-
den, das Gleichheitsgebot einhaltend. Frauen- und Männer-Rei-
hen wechseln sich ab. An der Innenseite der Friedhofsmauer
hängen Platten aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Unter einem
kleinen Dach, damit die Witterung die Sandsteinplatten nicht wei-
ter zerfrisst. Die ältesten sind auf Tschechisch beschrieben, erst
jüngere deutsch.
Lebenswege und ihre Zeugnisse Widerstand und Folklore
Über das schriftliche Gedächtnis des Böhmischen Dorfes wacht
derweil Stefan Butt. Er betreut das Archiv im Böhmischen Dorf,
untergebracht in einer kleinen Einraumwohnung im Erdgeschoss
eines Plattenbaus am Rande des historischen Dorfs. Von seinem
Balkon aus sieht man die Kirchgasse und die Spitzdächer der
Bauernhäuser. Die ursprünglichen Gebäude für die Flüchtlinge
standen alle mit dem Giebel zur Straße. Heute ist davon nur noch
eines übrig, die übrigen haben Brände und Witterung dahinge-
rafft. Die neuen stehen mit der Wandseite zur Straße, um mehr
Platz in den Innenhöfen zu schaffen. Am linken Dorfende über-
ragt das älteste Haus, das ehemalige Schulgebäude, das Dorf.
Bald soll das Archiv dort beim Museum einziehen. Auch, damit
die beiden bislang getrennten Vereine Museum und Archiv sich
näher kommen, womöglich in Zukunft einmal zusammengehen.
Die Geschichte der Böhmen in Neukölln kann heute nur noch so
gut - und zwar besser als in anderen Siedlungsorten - nachvoll-
zogen werden, weil die Evangelische Brüdergemeinde die Tra-
dition der Lebensläufe bis heute erhält. Wenn ein Gemeindemit-
glied verstirbt, schließt sich an die Beerdigung ein sogenanntes
„Liebesmahl“ an, wo bei Kaffee und Kuchen jene Lebensläufe
der Verstorbenen selbst oder ihr nahe stehender Menschen über
sie verlesen werden. Im Mittelpunkt dieser biografischen „Erbau-
ungsschriften“ steht traditionell der Weg zum Glauben. Aber geo-
grafische und persönliche Details lassen auch immer wieder auf
das Leben und den Alltag jener Zeiten schließen. Archivar Butt
sammelt, digitalisiert und analysiert diese Lebensläufe. Vor dem Museum steht bis heute Friedrich Wilhelm I. Sein Denk-
mal ist unterschrieben mit „Die dankbaren Nachkommen der hier
aufgenommenen Böhmen“. Stefan Butt kennt auch dazu eine
spannende Geschichte: „Am Ende des Zweiten Weltkrieges soll-
te es eingeschmolzen werden, weil das Metall gebraucht wurde.
Aber da schrieen die Menschen hier: ‚Nein, wir sind doch verfolg-
te Sudeten!‘ Das Denkmal blieb stehen. Nach dem Krieg kamen
die Russen und wollten es einschmelzen. Da schrieen die Leute:
‚Nein, wir sind doch ein slawisches Brudervolk!‘ Das Denkmal
blieb wieder stehen.“ 2012 wurde es 100 Jahre alt, die Gefahr
scheint gebannt.
SoNNTAGSBLATT
Parallel zum jährlichen Alt-Rixdorfer Weihanchtsmarkt fand 2018
auch schon zum zweiten Mal ein eigener Böhmischer Weih-
nachtsmarkt am Denkmal statt. Mit Gästen aus Čermná und
traditionellen Glaskugeln und Gebäck. Außerdem ist die Partner-
schaft Neuköllns und der Kreisstadt Ústí nad Orlicí jeweils bei
ihren Stadtfesten präsent. Eine symbolträchtige Partnerschaft,
meint Butt, denn: „Der Vertrag ist drei Tage vor dem Berliner
Mauerfall unterschrieben worden!“
Die Familie Weihpratizky, wie ihr Nachname im Laufe der Jahr-
hunderte eingedeutscht wurde, verschlug es über Berlin-Köpe-
nick letztlich in den Westen, nach Furtwangen im Schwarzwald.
Ihre Chronik verfasste Michael Weihpratizky, der als einziger
Nachfahre bisher noch einmal den Kreis schloss und 1990 mit
(Fortsetzung auf Seite 24)
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