Sonntagsblatt 4/2019 | Page 22

Öl aufs Feuer war noch dazu das eben erschienene Schulgesetz des Kultusministers Graf Albert Apponyi, das mit der Abschaf- fung der Nationalitätenschulen das Minderheitendasein im Keim zu ersticken drohte. Der geheim aber gut organisierte Versand des Katechismus hielt bis ins Frühjahr 1908 an. Viele der angeschriebenen be- dankten sich bzw. bestellten weitere Exemplare für Freunde und Bekannte. Solche Briefe bezeugen auch, dass der Katechismus die Stimmung und die halb unbewussten seelischen Bedürfnisse dieser ohne Leitung durch eine deutsche Intelligenz in unpoliti- scher Dumpfheit dahinlebenden einfachen Bauern genau getrof- fen hatte. Aber für das Madjarentum – Behörden, Gesellschaft, Presse – und für die halb oder ganz madjarisierte ländliche Intel- ligenz der Deutschen selbst (der sog. Janitscharen) war dieser Katechismus eine subversive Schrift. Krause stellte in seinem Katechismus in sehr einfacher, für je- den verständlicher Sprache 100 Fragen (genauer: 103!) und gab darauf sehr geschickt formuliert die passenden Antworten. Er wollte damit nicht bloß aufklären, sondern sein Ziel war, der ma- djarischen Gewalt - dem madjarischen Nationalstolz - ein ebenso stolzes Deutschbewusstsein gegenüberzustellen. Er verzichtete auf einen geschlossenen Aufbau, einen gegliederten Gedanken- gang, der von Stufe zu Stufe weiterführt, wie das bei gebildeten Lesern erforderlich gewesen wäre. Er begnügte sich mit einer ziemlich ungeordneten Wiederholung einiger Motive, denn „Du musst es dreimal sagen!“ ist ja das Geheimnis aller erfolgreichen Propaganda. Zweifellos ging Krause in der Abwertung der Leistungen des Madjarentums zu weit und betont den Wert der deutschen Spra- che und Kultur, der deutschen Weltstellung und der deutschen Leistung für den Südosten in einseitiger Weise. Doch war dies psychologisch gesehen notwendig, um der Madjarisierung er- folgreich entgegentreten zu können. Mikrokosmos Ost- und Mitteleuropa s Deutsche Volksgruppen Berlins Böhmisches Dorf Ein Beitrag von Peggy Lohse. Erschienen im „Landesecho”, der Zeitschrift der Deutschen in der Tschechischen Republik. Ver- öffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Chefredakteur Steffen Neumann. Aktuell sträubt sich Tschechien, Flüchtlinge aufzunehmen. Vor 300 Jahren flohen protestantische Böhmen vor Verfolgung aus ihrer Heimat. Im Berliner Multikulti-Bezirk Neukölln sind ihre Spu- ren bis heute sichtbar: im idyllischen Böhmisch-Rixdorf (Český Ryksdorf). 22 Unscheinbare Holztore, schmale Fußwege und alte Kopfstein- pflasterstraßen führen zwischen den belebten Berliner Stadt- magistralen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee hinein in eine heimelige Dorfwelt mit flachen Bauernhäusern, von wildem Wein und Efeu überwucherten Gartenzäunen und verwinkelten Hinter- höfen sowie eigenem Gottesacker: das Böhmische Dorf im Be- zirk Neukölln-Rixdorf. „Flüchtlingswelle“ aus Böhmen Pavel Vejprachtický kam 1737 mit Frau und vier Kindern aus dem böhmischen Čermná (heute Bezirk Pardubice) nach Preußen. Hunderte protestantische Familien aus Böhmen und Mähren wa- ren da bereits vor der brutalen Gegenreformation in ihrer Heimat geflohen. In Sachsen konnten sie zunächst Zuflucht bei Graf Zin- sendorf finden, der sie gar den Ort Herrnhut in der Oberlausitz gründen ließ. Doch bald konnten und wollten die Lausitzer keine böhmischen Flüchtlinge mehr aufnehmen. Die Neuankömmlinge mussten weiterziehen. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. brauchte derweil drin- gend arbeitsfähige Menschen. Seit dem Dreißigjährigen Krieg fehlten ihm mehrere Generationen an Bauern und Handwerkern. Und die Böhmen waren traditionell in der Textilverarbeitung ge- schickt. Also kaufte der König Land bei Rixdorf an, damals noch weit vor den Toren Berlins gelegen. Er ließ zunächst neun Dop- pelhäuser für insgesamt 18 Familien errichten und bot ledigen jungen Leuten Unterkunft in kleineren Dachwohnungen an. Am 12. Juni 1737 kamen die ersten böhmischen Flüchtlinge. Die meisten aus Čermná, heute Bezirk Pardubice. Wie Pavel Vejprachtický, der mit 32 Jahren zum ersten Dorfschulzen (Zivil- richter) von Böhmisch-Rixdorf gewählt wurde und fast 40 Jahre im Amt bleiben sollte. Seine Frau starb früh. Seine zweite Frau Dorota war ebenfalls Geflüchtete, aber im Unterschied zu vielen anderen ursprünglich aus einer katholischen Familie. Nachdem jedoch ihre Eltern gestorben waren, als sie gerade 15 Jahre alt war, kam sie zu ihrer Tante. Dort lernte sie Lesen und Schreiben, und wurde kritisch, wie sie in ihrem Lebenslauf schreibt: „Später erkannte ich, dass meine Eltern nicht weiter fragten, weil sie vor den päpstlichen Priestern große Angst hatten.“ In ihren Zweifeln entschied sie sich zur Flucht mit den Protestanten. Vejprachtický und sein böhmischer Freund Adam Krystek, der mit derselben Gruppe 1737 geflohen war, holten noch mehrmals als Fluchthelfer weitere böhmische Familien aus ihrer Heimatregion nach Rixdorf. „1741 kriegte ich einen starken Trieb nach Böhmen zu gehen und konnte denselben nicht loswerden“, schreibt Krys- tek dazu in seinem Lebenslauf, „Ich entdeckte es meinem ge- treuen Paul Wegprachtizky, und er sagte: Ihm wäre es auch so, und wenn es Gottes Wille ist, so würde es auch geschehen. Wir gingen dann 1742 (...) hinein und brachten 66 Seelen zu unserer großen Freude heraus.“ Konflikte und Integration Zum ersten eigenen Gottesdienst der Böhmen im September 1737 in der Rixdorfer Kirche kamen auch Nachbarn. Prediger Schulz erinnert sich später: „Bei meiner ersten Predigt in Rix- dorf fanden sich derselben viele deutsche Bauern ein. Ich hielt daher den Eingang in deutscher Sprache, und bat sodann die Deutschen, die Kirche zu verlassen und den Böhmen Platz zu machen, da sie ja doch nichts von meinem böhmischen Vortrag verstehen könnten. Die Deutschen wurden nun neugierig.“ Bald lebten neben 100 Ur-Rixdorfern schon 300 böhmische Flüchtlinge, die einige Privilegien genossen: zwei Jahre pacht- freies Wohnen, Steuerfreiheit, Befreiung von der Wehrpflicht, Religionsfreiheit. Und natürlich waren die Einheimischen nei- disch auf diese Vorzüge. Die Neuankömmlinge selbst mussten hart arbeiten, denn der SoNNTAGSBLATT