Sonntagsblatt 4/2016 | Page 22

Listen ist eine Angst , die sich von 1946 herrührt . Und es ist ein wunderbares Beispiel , dass man es nicht wahrgenommen hat , dass man mit den Menschen ein Konzept nicht einfach umsetzen kann , was noch viel zu sehr an Dingen rührt , die ganz anders wahrgenommen gehören . Das hat mich ziemlich betroffen gemacht , weil die Demokratie den Menschen erlauben müsste , ihren demokratischen Willen zu erkennen , aber das setzt voraus , dass die Men - schen Vertrauen in die Demokratie haben , aber wenn sie das nicht haben , dann mangelt es wirklich an etwas – es ist zwar ein weiterer Gedanke , aber etwas ist mangelhaft an den Beziehungen , und das hat mit Wahrnehmung zu tun . SB : Stichwort „ Wahrnehmung ”. Wir haben letztes Jahr eine Zu spit - zung der Flüchtlingskrise erlebt , was mit Wahrnehmung oder Wahr - nehmungsmöglichkeit oder -bereitschaft verbunden ist . Sie haben in der ungarischen und deutschen Presse deutlich Stellung bezogen . Aber auch in Ihren Predigten haben Sie Missstände in Politik , Kirche und Gesellschaft angesprochen . Was betrachten Sie als die größte Heraus - forderung im Europa der nächsten Jahre ? GS : Die größte Herausforderung besteht meiner Meinung nach aus zwei Dingen : Einmal , dass wir in Europa wirklich klären , und das hat meiner Ansicht nach die Flüchtlingskrise deutlich ge - macht , was unsere Prämisse ist , und zwar das Verbindliche wieder , der verbindliche Kontext , kann man auch sagen , auf die oder den wir uns wirklich einlassen können – als Theologe würde ich wieder sagen , das hat etwas mit christlichen Wertvorstellungen zu tun , ohne die wir gar nicht können . Und da verliert sich ein Stück , weil wir Partikularinteressen verfolgen , die womöglich einen Sinn ergeben , aber nur für den Moment , aber auf eine Prämisse , auf das Ganze hin eher destruktiv , nicht konstruktiv sind . Und das Zweite scheint mir zu sein , und das hat sich für mich in diesen Jahren überdeutlich gezeigt , dass wir überhaupt lernen müssen , das Be - wusstsein vom Ganzen zu kultivieren . Das wäre , auf diese Natio - nalgeschichte Ungarns bezogen , natürlich , dass die Nation nicht als Ganzes definiert werden kann , denn es wird immer Bewe - gungen geben , aber wir müssen eine Mitte haben . Was ist aber unser Bewusstsein vom Ganzen ? Auch der EU-Austritt Groß - britanniens , Brexit genannt , zeigt , dass sich die Partikularin te - ressen durchgesetzt haben , wo man nun vor dem Scherbenhaufen steht , denn das Ganze geriet aus dem Blickfeld . Wir müssen es auch in diesem südosteuropäischen Raum lernen , was gar nicht so einfach und sogar schmerzlich ist . Eine andere Chance haben wir gar nicht mehr in dieser Welt . Und nun zurück : Der Refe - renzrahmen ist aus meiner Sicht eindeutig ein christlicher , weil er über den ökonomisch geprägten Strukturen steht und die Men - schen ganz anders im Blick hat . Als Ideengeschichte ist die Kirche selbst in vielen Bereichen kritikwürdig , aber als Ideengeschichte haben wir meiner Meinung nach keinen anderen Rahmen . SB : Januar 2016 zelebrierten Sie anlässlich des Gedenktages der Vertreibung der Ungarndeutschen die Heilige Messe in der Johannes - kirche zu Wudersch , und das nicht zum ersten Mal . Was verbindet einen Westfalen mit dem Schicksal der Deutschen in Ungarn ? GS : Zum einen : Ich lebe als Westfale gewissermaßen im Exil hier , nicht vertrieben , aber doch in der Fremde . Und das ist ein ganz großes Bindeglied zu den Menschen , die vor 300 Jahren genauso in die Fremde gekommen sind , und wo deutlich wurde , dass sie Fremde sind , auch wenn es Phasen gab , wo sie Teil des Ganzen waren , aber der Schmerz , dass sie die Fremden sind , ist noch da . Das Zweite ist , glaube ich , die Erfahrung , dass wenn wir wissen , woher wir kommen , ich als Westfale , die anderen als Donau - schwaben , Rumänen , Ungarn , dann können wir auch dort sein , wo wir sind . Meine Identität befähigt mich auch dazu , in einer anderen Gesellschaft leben zu können , weil ich diese Identität habe . Das sieht man wunderbar an der deutschen Sprache , die ein erhebliches identifikatorisches Motiv ist , für diese Minderheit . Ich
kann hier leben , weil ich weiß , woher ich komme . Bei mir manifestiert sich das am deutlichsten durch die Sprache . SB : Woher man kommt , wo man ist : Damit verbindet sich für mich die Frage , wo ich hinaus will . Über ihre seelsorgerische Tätigkeit im Kreise der Ungarndeutschen haben Sie einen Einblick in das Leben der deutschen Minderheit gewonnen . Wie sehen Sie persönlich Gegen - wart und Zukunft der Ungarndeutschen , was sind die besonderen Heraus forderungen für diese Minderheit ? GS : Zunächst einmal , dass sie für sich ein Zukunftsbild artikuliert . Das Zukunftsbild ist zwar gebunden an die Geschichte , aus der sie kommt , aber man muss sich öffnen für das , was aus der Geschichte nicht mehr Kraft geben kann , aber doch vorhanden ist . In diesem Fall , dass der Dialekt nicht überleben wird , – wird er nicht . Im Sinne einer musealen Struktur schon , aber nicht als Kraft . An die Stelle wird ja diese deutsche Sprache treten , die Kraft ausstrahlt . Das ist das Eine . Das Andere ist , dass sich die Ungarndeutschen als eine in Europa verankerte Gruppe begreifen . Gebunden an den geografischen Raum , da ja der Nationalstaat eine moderne Erfindung ist , und davor gab es ja auch schon Donauschwaben . Sie sollen sich stärker verorten , nicht im nationalen Sinne . Man müsste sich ernsthaft Gedanken darüber machen , wie man mit der Wirklichkeit von Minderheiten umgeht . Der Begriff „ Europa der Regionen ” könnte dafür eine Dimension bieten , was für die Donauschwaben eine ganz klare Perspektive sein kann . In dieser Region zu Hause zu sein , mit den eigenen Wurzeln , die sie auch kultivieren wollen und auch weiterentwickeln sollen . Übrigens eine Idee von Europa . SB : Humanität , Wahrnehmung , Menschennähe . Sie sind selbst ein Mensch , so mein Eindruck , dem sehr viel daran liegt , auf die Men - schen zuzugehen . Mit welchem Gesamteindruck nehmen Sie nun von diesem Land und dessen Bewohnern Abschied ? GS : Mit dem Eindruck , dass in diesem Land unheimlich viel Kraft verborgen ist , die man positiv leben könnte , aber wo man sich verzettelt in dem Nicht-Loslassen . Aber ein Land , das im Aufbruch steht und Perspektiven hat . Eine Kraft , die ich in der Bundes re - publik so nicht sehe . SB : Pfarrer Stratmann , wir wünschen Ihnen viele interessante Impulse an Ihrem neuen Dienstort und Gottes Segen !
Das Interview führte Richard Guth .
Abschied von der Gröschl Mici
FRAU MARIA GRÖSCHL , GEBORENE GÖTZ – geb . in Wein dorf / Pilisborosjenõ , am 9 . Dezember 1926 – hat uns am 15 . Juni 2016 für immer verlassen .
Wenn wir heute über Deutsche in Weindorf hören , über Wirken des Deutschklubs , über Auftritte des Gesangchores lesen dürfen , so müssen wir feststellen : Motor des wieder aufblühenden deutschen Lebens in Weindorf war das Ehepaar Gröschl , der Gyuri und die Mici . Sie waren Gründer und Leiter viele Jahre hindurch .
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