Listen ist eine Angst, die sich von 1946 herrührt. Und es ist ein wunderbares Beispiel, dass man es nicht wahrgenommen hat, dass man mit den Menschen ein Konzept nicht einfach umsetzen kann, was noch viel zu sehr an Dingen rührt, die ganz anders wahrgenommen gehören. Das hat mich ziemlich betroffen gemacht, weil die Demokratie den Menschen erlauben müsste, ihren demokratischen Willen zu erkennen, aber das setzt voraus, dass die Men- schen Vertrauen in die Demokratie haben, aber wenn sie das nicht haben, dann mangelt es wirklich an etwas – es ist zwar ein weiterer Gedanke, aber etwas ist mangelhaft an den Beziehungen, und das hat mit Wahrnehmung zu tun. SB: Stichwort „ Wahrnehmung”. Wir haben letztes Jahr eine Zu spit- zung der Flüchtlingskrise erlebt, was mit Wahrnehmung oder Wahr- nehmungsmöglichkeit oder-bereitschaft verbunden ist. Sie haben in der ungarischen und deutschen Presse deutlich Stellung bezogen. Aber auch in Ihren Predigten haben Sie Missstände in Politik, Kirche und Gesellschaft angesprochen. Was betrachten Sie als die größte Heraus- forderung im Europa der nächsten Jahre? GS: Die größte Herausforderung besteht meiner Meinung nach aus zwei Dingen: Einmal, dass wir in Europa wirklich klären, und das hat meiner Ansicht nach die Flüchtlingskrise deutlich ge- macht, was unsere Prämisse ist, und zwar das Verbindliche wieder, der verbindliche Kontext, kann man auch sagen, auf die oder den wir uns wirklich einlassen können – als Theologe würde ich wieder sagen, das hat etwas mit christlichen Wertvorstellungen zu tun, ohne die wir gar nicht können. Und da verliert sich ein Stück, weil wir Partikularinteressen verfolgen, die womöglich einen Sinn ergeben, aber nur für den Moment, aber auf eine Prämisse, auf das Ganze hin eher destruktiv, nicht konstruktiv sind. Und das Zweite scheint mir zu sein, und das hat sich für mich in diesen Jahren überdeutlich gezeigt, dass wir überhaupt lernen müssen, das Be- wusstsein vom Ganzen zu kultivieren. Das wäre, auf diese Natio- nalgeschichte Ungarns bezogen, natürlich, dass die Nation nicht als Ganzes definiert werden kann, denn es wird immer Bewe- gungen geben, aber wir müssen eine Mitte haben. Was ist aber unser Bewusstsein vom Ganzen? Auch der EU-Austritt Groß- britanniens, Brexit genannt, zeigt, dass sich die Partikularin te- ressen durchgesetzt haben, wo man nun vor dem Scherbenhaufen steht, denn das Ganze geriet aus dem Blickfeld. Wir müssen es auch in diesem südosteuropäischen Raum lernen, was gar nicht so einfach und sogar schmerzlich ist. Eine andere Chance haben wir gar nicht mehr in dieser Welt. Und nun zurück: Der Refe- renzrahmen ist aus meiner Sicht eindeutig ein christlicher, weil er über den ökonomisch geprägten Strukturen steht und die Men- schen ganz anders im Blick hat. Als Ideengeschichte ist die Kirche selbst in vielen Bereichen kritikwürdig, aber als Ideengeschichte haben wir meiner Meinung nach keinen anderen Rahmen. SB: Januar 2016 zelebrierten Sie anlässlich des Gedenktages der Vertreibung der Ungarndeutschen die Heilige Messe in der Johannes- kirche zu Wudersch, und das nicht zum ersten Mal. Was verbindet einen Westfalen mit dem Schicksal der Deutschen in Ungarn? GS: Zum einen: Ich lebe als Westfale gewissermaßen im Exil hier, nicht vertrieben, aber doch in der Fremde. Und das ist ein ganz großes Bindeglied zu den Menschen, die vor 300 Jahren genauso in die Fremde gekommen sind, und wo deutlich wurde, dass sie Fremde sind, auch wenn es Phasen gab, wo sie Teil des Ganzen waren, aber der Schmerz, dass sie die Fremden sind, ist noch da. Das Zweite ist, glaube ich, die Erfahrung, dass wenn wir wissen, woher wir kommen, ich als Westfale, die anderen als Donau- schwaben, Rumänen, Ungarn, dann können wir auch dort sein, wo wir sind. Meine Identität befähigt mich auch dazu, in einer anderen Gesellschaft leben zu können, weil ich diese Identität habe. Das sieht man wunderbar an der deutschen Sprache, die ein erhebliches identifikatorisches Motiv ist, für diese Minderheit. Ich
kann hier leben, weil ich weiß, woher ich komme. Bei mir manifestiert sich das am deutlichsten durch die Sprache. SB: Woher man kommt, wo man ist: Damit verbindet sich für mich die Frage, wo ich hinaus will. Über ihre seelsorgerische Tätigkeit im Kreise der Ungarndeutschen haben Sie einen Einblick in das Leben der deutschen Minderheit gewonnen. Wie sehen Sie persönlich Gegen- wart und Zukunft der Ungarndeutschen, was sind die besonderen Heraus forderungen für diese Minderheit? GS: Zunächst einmal, dass sie für sich ein Zukunftsbild artikuliert. Das Zukunftsbild ist zwar gebunden an die Geschichte, aus der sie kommt, aber man muss sich öffnen für das, was aus der Geschichte nicht mehr Kraft geben kann, aber doch vorhanden ist. In diesem Fall, dass der Dialekt nicht überleben wird, – wird er nicht. Im Sinne einer musealen Struktur schon, aber nicht als Kraft. An die Stelle wird ja diese deutsche Sprache treten, die Kraft ausstrahlt. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass sich die Ungarndeutschen als eine in Europa verankerte Gruppe begreifen. Gebunden an den geografischen Raum, da ja der Nationalstaat eine moderne Erfindung ist, und davor gab es ja auch schon Donauschwaben. Sie sollen sich stärker verorten, nicht im nationalen Sinne. Man müsste sich ernsthaft Gedanken darüber machen, wie man mit der Wirklichkeit von Minderheiten umgeht. Der Begriff „ Europa der Regionen” könnte dafür eine Dimension bieten, was für die Donauschwaben eine ganz klare Perspektive sein kann. In dieser Region zu Hause zu sein, mit den eigenen Wurzeln, die sie auch kultivieren wollen und auch weiterentwickeln sollen. Übrigens eine Idee von Europa. SB: Humanität, Wahrnehmung, Menschennähe. Sie sind selbst ein Mensch, so mein Eindruck, dem sehr viel daran liegt, auf die Men- schen zuzugehen. Mit welchem Gesamteindruck nehmen Sie nun von diesem Land und dessen Bewohnern Abschied? GS: Mit dem Eindruck, dass in diesem Land unheimlich viel Kraft verborgen ist, die man positiv leben könnte, aber wo man sich verzettelt in dem Nicht-Loslassen. Aber ein Land, das im Aufbruch steht und Perspektiven hat. Eine Kraft, die ich in der Bundes re- publik so nicht sehe. SB: Pfarrer Stratmann, wir wünschen Ihnen viele interessante Impulse an Ihrem neuen Dienstort und Gottes Segen!
Das Interview führte Richard Guth.
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Abschied von der Gröschl Mici
FRAU MARIA GRÖSCHL, GEBORENE GÖTZ – geb. in Wein dorf / Pilisborosjenõ, am 9. Dezember 1926 – hat uns am 15. Juni 2016 für immer verlassen.
Wenn wir heute über Deutsche in Weindorf hören, über Wirken des Deutschklubs, über Auftritte des Gesangchores lesen dürfen, so müssen wir feststellen: Motor des wieder aufblühenden deutschen Lebens in Weindorf war das Ehepaar Gröschl, der Gyuri und die Mici. Sie waren Gründer und Leiter viele Jahre hindurch.
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