Sonntagsblatt 4/2016 | Page 14

Das deutsche Schulwesen in Ungarn

von Dr. Johann Weidlein( Aus: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 1966) – 2. Teil
Die Schließung der deutschsprachigen Gymnasien und Mittel- schulen stieß deshalb auf keinen ernsten Widerstand mehr, zumal sich der chauvinistische Druck auch andere Gebiete erkor: 1876 wurde die alte Autonomie des Königsbodens der Siebenbürger Sachsen vernichtet, die ihnen im Unionsgesetz von 1868 noch feierlich verbürgt worden war. Bald kamen auch die nichtmadjarischen Volksschulen an die Reihe. Den erster großen Schlag gegen sie führte das Volks- schulgesetz von 1879; es zwang die ungarische Sprache als Pflicht- fach den kirchlichen Volksschulen auf. Man bemühte sich, dies so hinzustellen, als wolle man mit der Ausbreitung des Madjarischen bloß die Kultur fördern; auch Nichtmadjaren sollten befähigt werden, hohe Staatsämter zu bekleiden. Ludwig Mocsáry, der Natio- nalitätenexperte der „ Achtundvierziger Partei”, erklärte je doch ehrlich, was damit erreicht werden sollte:
„ Es ist uns allen wohlbekannt, dass wir unter Ausbreitung der madjarischen Sprache nichts anderes verstehen als die tunlichste Beseitigung jenes großen Übelstandes, dass nämlich jene 15 Mil- lionen Menschen, die dieses Land bewohnen, nicht sämtlich ihrem Stamme nach Madjaren sind. Aber diese Intention, diese Ten- denz, welche – sei es mit, sei es ohne Willen – in dieser Aktion sich jedenfalls offenbart, begreifen auch die nichtmadjarischen Natio- nalitäten sehr gut.”
Nach den ersten Maßnahmen gegen das nichtmadjarische Er- zie hungswesen folgten die weiteren schnell. Das Gesetz XV / 1891 ordnete die Schaffung von Kindergärten an, damit sich schon die Kleinkinder „ unbemerkt und ohne Anstrengung” das Madjarische aneigneten. Die schwerste Beeinträchtigung entwuchs dem Apponyi’ schen Schulgesetz vom Jahre 1907, welches allen Schulen den staatlichen Lehrplan vorschrieb und die Muttersprache nur noch im Religionsunterricht duldete. Darüber hinaus hatte jede Minderheitenschule, also Lehranstalten, die von nationalen Min- der heiten gegründet und erhalten wurden, die Pflicht, in den Schülern das Bewusstsein zu wecken und zu festigen, dass sie der madjarischen Nation angehörten. Dieser nationalistische Geist müsse den gesamten Unterricht beherrschen; auch sei alles zu vermeiden, was die Kinder in eine seelische Verbindung mit einer anderen als der madjarischen Nation bringen könne. Die alte, 1846 erhobene Forderung Bajzas war jetzt also gesetzlich verankert. Wurde das Madjarische nicht mit entsprechendem Erfolg unterrichtet, so gab das Gesetz dem Staat die Möglichkeit, die Schule zu schließen und an ihrer Stelle eine staatliche, d. h. madjarische, zu eröffnen. Das konnte auch geschehen, wenn Lehrer irgendwo, selbst außerhalb der Schule, sich gegen den madjarischen Charakter des Staates zu wenden wagten. Durch dieses Gesetz wurden die deutschen Schüler von der Kultur ihres Volkes getrennt. Ihre geistige Abschnürung erleichterte die Madjarisierung. In welchem Umfang das deutsche Schulwesen Ungarns abgewürgt wurde, ergibt sich aus folgendem: es gab deutsche Volksschulen: 1855: 2400, 1869: 1262, 1880: 867, 1918: 417.
Aber von den 417 übriggebliebenen Anstalten gehörten 254 der siebenbürgisch-sächsischen lutherischen Landeskirche für ihre rund 250 000 Gläubigen. Weitere 116 lagen in den fast rein deutschen Gebieten Westungarns, im heutigen Burgenland. Also hatten die rund 1,5 Millionen der übrigen Deutschen praktisch keine eigensprachigen Lehrstätten mehr. Im Raum des heutigen
Ungarn bestand damals nicht eine einzige deutsche Volksschule. Die deutschen Gymnasien und Mittelschulen waren hier schon seit Koloman Tisza geschlossen.
Seit 1907 erstrebte die Schulverwaltung nur noch, den nichtmadjarischen Kindern das Madjarische beizubringen; auf Vermitt- lung sonstiger Kenntnisse legte man keinen besonderen Wert. Frei lich konnten sich die Volksschulen nicht in solchem Ausmaß wie die höheren Anstalten in Madjarisierungsmaschinen verwandeln, von welchen man sagte, vorne werfe man slowakische und deutsche Kinder hinein, und hinten kämen waschechte Madjaren heraus.
Demoralisiert verließen auch die Volksschüler ihre madjarisierten Schulen; Demoralisierung war ja das wichtigste Madjarisie- rungs mittel. Széchenyi bezeichnete( 1842) das Schmähen der Nicht madjaren als eine „ wirklich sehr übelriechende Reliquie”, nach ihm aber wurde das ganze nationale Leben, namentlich die Literatur und Geschichtsschreibung, in den Dienst der Entnatio- nalisierung gestellt. Hand in Hand mit der Schmähung des Deut- schen ging die übermäßige Verherrlichung der Madjaren, denn die Assimilationstendenz duldete keine Selbsterkenntnis, „ weil die das Madjarentum in ungünstiger Beleuchtung hätte erscheinen lassen”, wie es in den „ Ungarischen Jahrbüchern” wörtlich heißt.( Jg. 1934, S. 169). Professor Stefan Wieser, ein führender Schulmann der Sath- mar schwaben, berichtet ausführlich darüber, wie man den deutschen Schulkindern Minderwertigkeitskomplexe einflößte und wie sie dann aus eigenem Antrieb, ja mit Begeisterung, ins madjarische Lager hinüberwechselten:
„ Die Herrlichkeit des madjarischen Volkes, das uns als das erste, das edelste Volk geschildert wurde, hatte uns in Bann ge- schla gen. Wir waren stolz, dass man uns auch zu diesem Volke zählte... Wir hörten viel darüber, dass die Deutschen mit den Madjaren oft Kriege geführt und immer wieder versucht hätten, sie zu unterdrücken, dass aber die Madjaren immer Sieger geblieben seien. Die Deutschen waren für uns Feinde des edlen madjarischen Volkes.”( Vgl. Heimatbuch der Sathmarer, S. 41).
Die eifrigsten Madjarisierer waren entvolkte Söhne deutscher Eltern: sie empfingen als Lehrer die Madjarisierungsprämien mit großem Stolz. Der Grundzug des „ nationalmadjarischen Geistes”, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Schule eingeführt wurde, ist eine verkrampfte Abwehrhaltung gegen das deutsche Nachbarvolk. Aus diesem starren Blickwinkel deutete man die gesamte nationale Vergangenheit. Alles, was sich gegen die Deut- schen gestellt hatte, war „ national” und wurde der Jugend als Idealbild vermittelt. Eine solche Verzerrung der Wahrheit musste für die Madjaren selbst schließlich böse Folgen haben. Graf Stefan Széchenyi, der die Madjarisierung des deutschen Bürgertums mit Nachdruck forderte, hatte anscheinend an die Madjarisierung des deutschen Bauerntums in Ungarn gar nicht gedacht. Am 28. Juni 1830 schrieb er in sein Tagebuch im Zusam- menhang mit seiner Reise nach Neu-Futtak „ gerecht und nicht als Hungar”, es sei „ nicht möglich, außer wir wollen, dass es finster werde, dass ein cultivirter und vernünftig civilisirter teutscher Bauer einen rohen, wilden, unwissenden, fluchenden Pferdedieb nachahme... Wir wollen ja wie die Menschen, nicht wie die Thiere leben.” Das sind wohl sehr harte Worte, aber Széchenyi wollte mit diesen offensichtlichen Übertreibungen auf den großen kulturellen Unterschied zwischen den deutschen und madjarischen Bauern seiner Zeit hinweisen und wünschte keinesfalls, dass der deutsche Bauer madjarisch werde.
Zum Problem wurde das deutsche Schulwesen in Ungarn durch die Regierungsverordnung vom 22. Juni 1923 „ betreffend die Durchführung der im Trianoner Friedensvertrag bezüglich des Schutzes der Minderheiten übernommenen Verpflichtungen.”
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