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War Ungarn nie multikulturell?
Emmerich Ritter, der parlamentarische Spre -
cher der Ungarndeutschen, richtete eine Frage
als Nationalitätensprecher an Ministerpräsi -
den ten Viktor Orbán mit dem Titel „War Un -
garn nie multikulturell?”. Am 15. Juni beant-
wortete statt des Ministerpräsidenten Bence
Rétvári, parlamentarischer Staatssekretär im Minis terium für Humanres sour -
cen, die Frage von Ritter.
Die Frage Ritters wurde als Brief an das Parlament abgegeben:
„Wudersch, den 29. Mai 2015
an Herrn László Kövér, den Präsidenten des Ungarischen Parlaments
Betreff: Nationalitätenangelegenheit
Hatte Ungarn nie eine multikulturelle Gesellschaft?
Zur Beantwortung der Frage wird Ministerpräsident Viktor Orbán
erbeten
Laut Abschnitte (2), (4) des §124 des Parlamentsbeschlusses 10/2014
(II. 24) über Anweisungen der Parlamentsordnung, sowie den Anord -
nungen des Abschnittes (4) von § 29 des XXXVI. Gesetzes des Jahres
2012 über das Parlament nachkommend stelle ich die folgende Frage:
Geehrter Herr Ministerpräsident!
Hatte Ungarn nie eine multikulturelle Gesellschaft?
Wegen der Reden des Herrn Ministerpräsidenten am 19. Mai
2015 in Straßburg sowie wegen einiger an den vorangehenden und
folgenden Pressekonferenzen von Ihnen geäußerten Sätzen oder
Satzteilen bzw. der diesbezüglichen Berichte in den Print- und
elektronischen Medien sind die in Ungarn lebenden Nationali -
täten besorgt.
Wir hörten von Ihnen beispielsweise: „…weil wir nie eine multi-
kulturelle Gesellschaft waren…”; „Wir halten es für einen Wert, dass
Ungarn ein homogenes Land ist: es zeigt in seiner Kultur, Menta -
lität, in seinen Zivilisationsbräuchen ein ziemlich homogenes Bild.
Unseres Erachtens ist dies ein Wert, wir wollen das auch nicht aufge-
ben”; „Ungarn wollen wir als ein ungarisches Land bewahren”.
Fast 10% der Bevölkerung Ungarns bilden auch heute noch
Nationalitäten. Laut der Ungarischen Akademie der Wissen -
schaf ten ist Ungarn Teil von Mitteleuropa, diese Region charakte-
risiert nichts besser als die Existenz von gut organisierten, auf ihrer
kulturellen Identität bestehenden Minderheiten. Kulturelle
Vielfalt ist darüber hinaus ein Wert, der vom Staat geschützt wird
– nicht nur aufgrund des in Ungarn gegenwärtig gültigen
Nationalitätengesetzes, sondern auch aufgrund diverser interna-
tionaler Verträge. Wer dies bestreitet, stellt die Anerkennung von
Minderheitengemeinschaften, die Verbundenheit mit der politi-
schen Gemeinschaft von Menschen in Zweifel, die Minderhei -
tengemeinschaften angehören und für die diese Zugehörigkeit
wichtig ist.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Bedauerliches Kennzeichen des 20. Jahrhunderts war eine brei-
te Palette an Mitteln der Zwangsmagyarisierung. Ich darf nur auf
die Vertreibung von mehr als 200 000 Ungarndeutschen hinweisen;
den 70. Jahrestag dieser Ereignisse begehen wir nächstes Jahr.
In den letzten Jahren durften wir in der ungarischen Politik
hoff nungsvolle Änderungen bezüglich der Lage der Nationa li -
täten in Ungarn erfahren, wir hörten Ihnen, Herr Minister -
präsident, mit Freude zu, als Sie die gemeinsame Pressekonferenz
mit Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel folgendermaßen eröff-
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net haben: „Das ungarische Volk ehrt nicht nur die Deutschen, es
hat sie auch gern, und hierbei spielen die in Ungarn lebenden
Deutschen, die sich großen Respekt erkämpft haben, und deren
Vertreter Mitglied der heutigen Delegation war, eine wichtige
Rolle.”
Wir glauben daran, dass die ungarische Politik mit der gewaltsa-
men Magyarisierung endgültig und für immer gebrochen hat.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass die aus dem Kontext
herausgegriffenen Sätze, Satzteile oft Möglichkeit zur falschen
Interpretation geben. Deshalb bitte ich Herrn Ministerprä -
sidenten, seinen klaren Standpunkt bezüglich der zitierten Sätze,
bezüglich Multikulturalismus, homogene und ungarische Gesell -
schaft auszudrücken.
Ich danke Ihnen im Voraus für Ihre Antwort und verbleibe
hochachtungsvoll
Emmerich Ritter,
parlamentarischer Sprecher der deutschen Nationalität
Die Antwort von Staatssekretär Bence Rétvári – im Auftrag
von Ministerpräsident Orbán:
Geehrter Herr Vorsitzender, geehrter Herr Sprecher, geehrtes
Parlament, den Anfang der Antwort haben Sie teilweise bereits
in Ihrer Frage gegeben, denn selbst Sie sagten, dass diese Sätze
bewertet werden sollen, indem man sie in ihrem Kontext betrach-
tet. Und tatsächlich: die beiden Begriffe „multinational” und
„multikulturell” müssen voneinander unterschieden werden. In
Ungarn leben auch gegenwärtig viele Nationalitäten – auch hier
im Parlament sind sie präsent, denn laut des neuen Grundgesetzes
dürfen seit 2014 auch deren Sprecher im Parlament anwesend
sein. In Ungarn sind die Nationalitäten, die unter uns leben – wie
das auch im Grundgesetz verankert ist – Teile der ungarischen
Nation, staatsbildende Faktoren. Demgegenüber dient der Begriff
‚Multikulturalismus’ zur Bezeichnung des Aufeinandertreffens
von Menschen, die aus verschiedenen Zivilisationen kommen. So
wurde der Begriff auch in Westeuropa gebraucht, so wird er auch
in Mitteleuropa verwendet. Es handelt sich also um eine ganz
andere Situation. Wir stehen demgemäß nicht eines Jahrhunderte
währenden Zusammenlebens, eines gemeinsamen Daseins in
guter Beziehung gegenüber, es geht hier um etwas ganz anderes:
wir stehen – und vor allem westeuropäische Länder stehen – dem
Aufeinandertreffen von muslimischen, fernen Ländern und euro-
päischen Gesellschaften mit christlichen Wurzeln gegenüber.
Gestatten Sie mir, die Worte des Herrn Ministerpräsidenten am
3. Juni zu zitieren: »Ungarn verfügt über multinationale Wurzeln
und multinationalen kulturellen Hintergrund, dies ist aber kein
Multikulturalismus! Multikulturalismus bedeutet das Zusammen -
leben von Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergrün -
den; das Zusammenleben des Islams, asiatischer Religionen und
des Christentums.« Das nationale Bekenntnis des Grundgesetzes,
welches die bürgerliche Regie