Sonntagsblatt 2/2018 | Page 26

Im abschließenden Kapitel gehen die Autoren der Genese der Vertreibung der Ungarndeutschen und der Schuldfrage nach . Entgegen bisheriger ungarischer Veröffentlichungen zu diesen Fragen in Ungarn kann in der vorliegenden Arbeit von ausgewogener und objektiver Darstellung gesprochen werden . Die Autoren scheinen die einschlägigen jüngsten diesbezüglichen Publikationen zur Bearbeitung ihres Themas herangezogen zu haben . Auffallend bleibt , dass als treibende Akteure der Schwabenhetze und ihrer Vertreibung stets nur die kommunistischen Scharfmacher und die Protagonisten aus der Bauernpartei hervorgehoben werden . Die nicht minder lautstarken Hetzer aus der Partei der Kleinlandwirte , wie Ministerpräsident Zoltán Tildy oder Staatspräsident Ferenc Nagy , werden ( mit Ausnahme des Parlamentspräsidenten Béla Varga ) nicht erwähnt .
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Nur schwer zu fassen ist , wie die Autoren , bei ansonsten viel Sensibilität zum Schicksal der Vertriebenen und offensichtlichem Gespür für den sprachlich-begrifflichen Kontext , durchgehend von „ Aussiedlung “ ( kitelepítés ) sprechen , wenn es um die Vertreibung der Schwaben aus Ungarn geht . Geht es um die Zwangsumsiedlung der Slowakeimadjaren ( im Rahmen eines slowakisch-ungarischen Bevölkerungsaustausch-Abkommens ), wechselt ihr Sprachgebrauch ins deutlich Härtere , dann heißt es „… die aus ihrem Zuhause vertriebenen Madjaren “. ( S . 221 ). Es scheint , dass mit der sprachlichen Ungleichbezeichnung , mit der euphemistischen Aussiedlungsbezeichung das vom eigenen Land verübte Unrecht , die Vertreibung der Schwaben aus Ungarn , milder bewertet werden soll , als das von einem anderen Land ( der Tschechoslowakei ) verübte Unrecht an den Madjaren , das als Vertreibung bezeichnet wird . Nur ein einziges Mal , als die Stuttgarter Deklaration der Heimatvertriebnen , die „ Charta der Heimatvertriebenen “ von 1950 zitiert wird , kommen die Autoren an der getreuen Übersetzung des Titels der Deklaration nicht vorbei und müssen die Bezeichnung , „ Elűzött Németek Chartája “ ( Charta der vertriebenen Deutschen ) schreiben ( S . 225 ). Da darf es auf einmal Vertriebene heißen . Vielleicht , weil als Urheber des Unrechts mehr andere Nationen ( Polen , Tschechoslowaken , Jugoslawen ) im Fokus stehen ? Dies alles ist umso verwunderlicher , weil es doch nach der Wende 1990 in der Geschichtsdiskussion in Ungarn angeblich kein Tabu mehr über die Zwangmigrationen nach 1945 gibt . So wird über die aus ideologischen Gründen verübte Zwangsumsiedlung der sog . Klassenfeinde in der kommunistischen Rákosi-Ära um 1950 in die Ungarische Tiefebene ( Alföld ) ausführlich berichtet . Tausende von Intellektuellen , Mittelständlern , Freiberuflern , Fabrikbesitzern , Grundbesitzern wurden damals als sog . Klassenfeinde und Ausbeuter enteignet und in Internierungslager deportiert . Kitelepítés / Aussiedlung ist hierfür die gängige Bezeichnung . Auch über die vollkommene Enteignung , Internierung und Ausweisung der Ungarndeutschen , einschließlich Entzug ihrer Staatsangehörigkeit und das Verbot der Wiedereinreise in ihre Heimat , was aus ethnischen Gründen erfolgte , „ németségük megvallásáért “, wie es auch auf S . 209 des Buches von den Autoren selbst sehr richtig vermerkt wird , weiß man heute in der Öffentlichkeit Ungarns mehr Bescheid als vor 20 Jahren . Beide Vorgänge sind in ihrer Genese , viel mehr noch in ihrer Tragweite , grundlegend verschieden und sollten in ihrer unterschiedlichen Begrifflichkeit durch semantische Nivellierungsversuche , was ihre gleichlautende Bezeichnung „ Aussiedlung / kitelepítés “ suggeriert , nicht vermischt werden . Dieses Vorgehen war von Anfang an irreführend und wirkt erst recht verräterisch , wenn man die Bezeichnung „ Vertreibung “ mit Vorliebe nur beim Schicksal der eigennationalen ( madjarischen ) Bevölkerung verwendet und beim Schicksal einer andersnationalen ( ungarndeutschen ) Bevölkerung von Aussiedlung spricht . Es geht um zwei unterschiedliche historische Vorgänge , für die es auch im Madjarischen zwei , jeweils passende , unterschiedliche Bezeichnungen gibt : Aussiedlung einerseits und Vertreibung andererseits . Die vertriebenen Ungarndeutschen stören sich bis heute an dem auch in dieser Publikation konsequent praktizierten begrifflichen Nivellierungsversuch mittels sprachlicher Irreführung . Schade , nach so viel Sorgfalt und Mühe bei der Erstellung dieses begrüßenswerten Buches .
Forschungsband über die vielfarbigen Traditionen von Großturwall / Törökbálint veröffentlicht
Von Kathi Gajdos-Frank
Das reiche Brauchtum von Großturwall , das Pflegen der volkskundlichen Schätze mit ungarndeutschen Wurzeln ist eine wunderschöne Aufgabe . In meiner Kindheit war die Geschichte der Ungarndeutschen , ihre Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ein Tabuthema , offiziell hörte man erst im März 1987 , an einer Historikerkonferenz in Budapest , darüber und über die Frage der Verantwortung . In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre konzentrierten sich dann die Forschungen auf die Vertreibung , und es wurden die in den Regionalarchiven aufbewahrten Dokumente bearbeitet . Das führte dazu , dass sich die Aufmerksamkeit der ForscherInnen der Lokalität und der Regionalität zugewandt hat . Die Ortsgeschichte konnte so , neben der Landesgeschichtsschreibung , unsere Kenntnisse ergänzen und bereichern .
Die Geschichte der Ungarndeutschen , ihre Traditionen und ihre Vertreibung gehören auch seit der Wende zu jenen Kapiteln , über welche die durchschnittlichen Ungarn heute nur noch am Rande etwas wissen . Das ist auf örtlicher Ebene genauso . Die VerfasserInnen der vorliegenden Beiträge haben den Versuch unternommen , einige der bisher erst mangelhaft ausgeleuchteten Themen zu erforschen . Ihre Arbeit , die die reiche Vergangenheit der örtlichen Gemeinschaft erschließt , ist beachtenswert : Frau Dr . Erika Csébfalvi Szalai hat über die Sitten und Bräuche in Großturwall , Frau Ildikó N . Császi über die geographischen Namen von Großturwall , Herr Wendelin Pettinger-Szalma über die ethnischen und religiösen Aspekte von Großturwall ( 1800-1960 ) und Frau Ágnes Simon über die Geschichte und Integration der aus Großturwall vertriebenen Ungarndeutschen in Baden-Württemberg einen interessanten Beitrag verfasst .
Frau Dr . Erika Csébfalvi Szalai beschreibt in ihrem Beitrag detailliert die alten Sitten und Bräuche in Großturwall . Besonders gut fand ich den letzten Teil der Arbeit , wo die Verfasserin über die heutigen „ Variationen ” der alten Sitten und Bräuche erzählt . Berührend schön hat sie in ihrer Einleitung das Ziel der Arbeit zusammengefasst , hoffentlich werden viele LeserInnen – nicht nur aus Großturwall / Großturwall – ihren Beitrag lesen : Frau Dr . Erika Csébfalvi Szalai möchte mit ihrer Arbeit dazu beitragen , dass die Beziehung der jungen Generation zur deutschen Nationalität und zur deutschen Sprache durch das Kennenlernen und Pflege der Kultur und Tradition ihrer Ahnen stärker wird . Mit der Meinung der Verfasserin bin ich absolut einverstanden , sie schreibt , dass wenn die Kinder ihre Wurzeln und Kultur kennenlernen und sie ihr ganzes Leben lang pflegen , dann werden sie diese auch an die nächste Generation weitergeben können . Die Arbeit von Frau
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