Sonntagsblatt 1/2022 | Page 34

der Flucht vor Rekrutierungsmaßnahmen seitens der jeweiligen bewaffneten Streitkräfte . Es war eine Zeit der „ Möchtegern ” -Akteure : Ehemalige k . u . k . Offiziere , aber auch die Zentralgewalt , ob ungarisch oder österreichisch , erhoffte sich dadurch die eigene Machtkonsolidierung , so die Studie .
Die Studie wagt neben dem behandelten Zeitraum eingangs einen Blick in die Vergangenheit , die für das Verständnis der Ereignisse um 1920 herum enorm wichtig ist - so der Hinweis auf die fehlende deutsche und kroatische Intelligenz , also Akademikerschicht , und die immer stärkeren Madjarisierungstendenzen . So lautet eines der Fazite : „ Die Tätigkeitsbereiche der Intelligenz und Verwaltung , vom Lehrer über den Pfarrer bis zum Notar , waren für ungarisch sprechende Bürger vorbehalten ”. Dennoch unterschied sich die Situation der Deutschen in Westungarn von der in der Branau beispielsweise dadurch , dass der Alltag der agrarisch geprägten Bevölkerung in einer der fruchtbarsten Anbaugegenden des Landes vielfach von Arbeitsmigration geprägt war und man eher mit den österreichischen Städten vernetzt war als mit den binnenungarischen : So arbeiteten viele Männer in der österreichischen Industrie in Wien , Graz und Wiener Neustadt , die Frauen hingegen als Dienstpersonal in den bereits genannten Städten - beispielsweise im Jahr 1910 aus dem Komitat Eisenburg 7260 Frauen alleine in Wien . Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse waren wichtig für die Versorgung der Erbländer . So galt Westungarn – auch die nicht deutsch besiedelten Gemeinden in der Kleinen Tiefebene – als Kornkammer Wiens , was bereits früher bestehende Ansprüche Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg noch bekräftigte . Dabei setzte Österreich bei der Grenzfrage nicht auf Annexion , sondern auf Propagandatätigkeit - nicht anders die ungarische Seite . Auch der Wilsonsche Selbstbestimmungsgedanke beeinflusste die diesbezüglichen Bemühungen .
Die Studie berichtet ungarischerseits bzw . ungarndeutscherseits wiederum von zwei Konzepten : Zum einen strebten die großdeutsch gesinnten Vereine , unter anderem der „ Verein zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn “, eine Angliederung an Österreich an , wohingegen der Kreis um Jakob Bleyer eine begrenzte Autonomie wollte . Infolge dessen kam es in Ödenburg zur Gründung eines deutschen Nationalrats , an dessen Spitze Géza Zsombor als Gouverneur stand . Am 29 . Januar 1919 erschien das Volksgesetz VI der sozialdemokratisch geführten Regierung über „ eine Autonomie des deutschen Volkes ” ( neben den Ruthenen die einzige Volksgruppe , die kollektive Autonomierechte erhalten sollte ). Johann Junker nahm als „ Minister der Ungarndeutschen ” seine Arbeit auf . Man plante Wahlen und die Entsendung von 50 Vertretern der Deutschen ins Parlament . Die Verwirklichung deutscher Autonomiepläne wurde nicht einmal durch die Errichtung der Rätediktatur gestoppt : So wurde in Ödenburg ein Deutscher Volkskommissar installiert und am 20 . Mai nahm unter der Leitung von Alexander Kellner eine siebenköpfige Gauleitung ihre Arbeit auf .
Die bolschewistische Machtübernahme beförderte trotzdem die Entscheidung zugunsten einer Angliederung des Gebiets an Österreich . Insbesondere konservative und legitimistische Exilkreise versuchten unter anderem über Waffenlieferungen gegen die rote Diktatur vorzugehen – Vorbote für die als Weißer Terror bekannte Folgeentwicklung . Nach dem Untergang der Räterepublik im August 1919 beschäftigten die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Land auch die neue Zentralmacht – so entsandte die Regierung in Budapest Jakab Graf Sigray als Regierungskommissar nach Steinamanger . Dass den Ungarn viel am Beibehalten des Gebiets lag , zeigte auch der Besuch des späteren Reichsverwesers Miklós Horthy in Ödenburg und Steinamanger - noch vor seinem offiziellen Machtantritt . Auch Gesten in Richtung deutscher Volksgruppe wie die Ernennung Bleyers zum Nationalitätenminister und das Beibehalten der Zweisprachigkeit im Regierungskommissariat Sigray unterstrichen das . Dennoch kann man laut Studie von einem Rückschritt sprechen , denn man gestand den Deutschen fortan - auf der Basis des Nationalitätengesetzes von 1868 – nur individuelle , aber keine kollektiven Rechte mehr zu .
Am 10 . September 1919 fiel dann die Entscheidung über die Zugehörigkeit des Gebiets zu Österreich – bis zur endgültigen Übergabe vergingen noch zwei Jahre . Paramilitärische Aktivitäten , auf die die ungarische Zentralmacht zurückgriff , die Gründung der Leitha- Banschaft mit Sitz in Oberwart ( damals mit madjarischer Bevölkerungsmehrheit ) unter der Führung des Extremisten Prónay und die vorsichtige , diplomatische Vorgehensweise der Großmächte begleiteten den Prozess . Auch die anfangs autonomiefreundliche Haltung der ungarischen Politik veränderte sich : Bleyer wurde entlassen und die deutschsprachige Presse zensiert .
Ein Zankapfel blieb die Zugehörigkeit Ödenburgs . Nach zähen Verhandlungen fand man am 19 . Oktober 1921 eine Volksabstimmungslösung . Die Abstimmung selbst fand zwei Monate später statt . Insgesamt votierten über 60 % der Bewohner des Gebiets rund um Ödenburg für den Verbleib bei Ungarn , wobei zahlreiche Gemeinden wie Agendorf , Wandorf oder Harkau mit großer Mehrheit für Österreich stimmten . Es wurden Grenzziehungskommissionen gebildet , um den endgültigen Grenzverlauf festzulegen , wobei hier ökonomische Motive dominierten und nicht sprachlich-ethnische . Dass sich die Beziehungen schnell normalisierten und trotz Entflechtungen auch Verflechtungen blieben , zeigt der provisorische Handelsvertrag vom Januar 1922 - nur einen Monat nach der Volksabstimmung .
Murber verfasst eine lesenswerte Studie für den historisch Interessierten , der sich einen Überblick über den Weg verschaffen möchte , der zur alles entscheidenden Volksabstimmung vor 100 Jahren führte . Dabei erwies sich die Vorgehensweise , anhand von Ent- und Verflechtungen die Ereignisgeschichte zu beleuchten , als sinnvoll und zukunftsweisend . ___________________________________________
* Murber , Ibolya : Grenzziehung zwischen Ver- und Entflechtungen . Eine Entstehungsgeschichte Deutsch-Westungarns und des Burgenlandes . - Wiesbaden 2021
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