Sonntagsblatt 1/2022 | Page 16

Manche hätten versucht die Aktion zu verlangsamen , manche Hauptamtsleiter in den Dörfern und Städten hingegen hätten auch zusätzliche Personen auf die Liste gesetzt . Von Dämonisierung der deutschen Minderheit und der Idee einer Kollektivstrafe für die Deutschen sei die Atmosphäre gekennzeichnet gewesen , so Dr . Márkus , Dozentin an der Universität Fünfkirchen . So seien in erster Linie nicht die Schuldigen , sondern Unschuldige verschleppt worden , wie das Beispiel von siebzehnjährigen Verschleppten zeigt . Problematisch sei dabei die Definition der deutschen Nationalität beziehungsweise Herkunft gewesen , was die Willkür begünstigte , so die Gesprächsrunde .
Gleichzeitig habe ab Sommer 1944 eine Fluchtbewegung Richtung Westen eingesetzt , worüber man aber recht wenig wisse . Man schätzt die Zahl der Flüchtlinge auf 40 . -50.000 . Aus Katschmar / Katymár flohen 2000 von den 5000 Deutschen - ein Teil kehrte zurück , rief Dr . Ágnes Tóth in Erinnerung , die am Institut für Minderheitenforschung am Loránt-Eötvös-Forschungsnetz als Professorin tätig ist .
Der Leidensweg begann nach Dr . Ágnes Tóth im Februar 1945 mit der Bodenreform . Die erste Stufe der Kollektivstrafe war die Beschlagnahmung des Boden- Besitzes der Volksbundmitglieder gewesen . Erschwert worden sei die Identifizierung der Volksbund-Mitglieder durch Vernichtung oder Mitnahme von Unterlagen , ergänzte die Teilnehmerin der Runde , Dr . Réka Marchut . 20.000 Bukowina-Sekler klopften bereits an der Tür . Für die chaotische Situation stünden u . a . die Bodor-Aktionen in Südungarn , wo Schwaben ihre Häuser verlassen mussten . Die Bodenreform habe für viel Aufruhr im Land gesorgt und den Prozess der Enteignung der Deutschen beschleunigt . Bis Mai sei festgestanden , dass die Deutschen vertrieben werden sollen – die Kleinlandwirtepartei sei damals noch gegen die Kollektivstrafe gewesen . Die Historikerin Dr . Tóth wies - unter Bezugnahme auf die Forschungstätigkeit von Dr . Beate Márkus - noch einmal deutlich darauf hin , dass der Potsdamer Beschluss („ Potsdamer Legende ”) die Vertreibung lediglich ermöglicht habe , die Entscheidung aber die ungarische Seite getroffen habe . Bei aller Verantwortung der Großmächte sei man in Potsdam damit beschäftigt gewesen , die wilden Vertreibungsaktionen im Sudetenland und in den deutschen Ostgebieten zu regeln . Die Lobbytätigkeit der Tschechoslowakei dürfe auch nicht verkannt werden – eine Vertreibung der Madjaren lehnte man ab , man regte einen Bevölkerungsaustausch an .
Man beleuchtete im Anschluss auch die Umstände der Vertreibung . Dr . Beate Márkus sprach von einem Prozess der Entrechtung , der Ende Dezember 1945 in der Vertreibungsverordnung gipfelte , in der es von Nonsenses nur so gewimmelt habe . Die Verordnung wurde schnell umgesetzt , denn am 19 . Januar setzten sich die ersten Transporte aus Wudersch in Bewegungen . Dies zeige , dass die Aktion von langer Hand vorbereitet war . Dennoch sei die Vertreibung in der ersten Phase bis Juni 1946 chaotisch und unkontrolliert verlaufen . Transportkapazitäten hätten nicht zur Verfügung gestanden , was die Vertriebenen zum Warten verdammt habe , erläuterte die Historikerin Dr . Ágnes Tóth . Im Sommer stellten - wie die Dokumente zeigen - die Amerikaner Bedingungen , wodurch die Vertreibung zum Erliegen kam . Danach wurden 1947 / 48 35.000- 50.000 Deutsche in die SBZ vertrieben . Die Aktion endete im Sommer 1948 .
Auf die Daheimgebliebenen wartete eine Zeit der Entrechtung : Sie besaßen nicht einmal recht ; das sagte bereits Balázs Dobos von der Corvinus-Universität Budapest und vom Forschungsnetzwerk Eötvös . Die Restriktionen erstreckten sich auch auf die Wahl des Wohnortes oder die Berufswahl . Eine allmähliche Entspannung habe Anfang der 1950er eingesetzt , das Wahlrecht erhielten die Deutschen erst 1953 zurück . Im Sommer 1955 entstand der „ Deutsche Verband “ - unter Beteiligung von sechs Personen , drei von ihnen Journalisten , was den engen Spielraum zeige . Die Deutschen seien in einem Verzug von acht bis zehn Jahren gewesen - im Vergleich zu den anderen Nationalitäten , ergänzte Dr . Tóth . Bis Ende der 1960er Jahre habe das Stigma der vermeintlichen Kollektivschuld gegolten , so die Einschätzung der renommierten Forscherin . Diese Diskriminierung habe sich beispielsweise bei der Verteilung von Fördergeldern gezeigt – wie etwa beim Ausbau von Gehwegen in den Kommunen . Dobos nannte einen Parteibeschluss von 1958 , wonach man ein friedliches Zusammenleben der Nationalitäten anstrebe - mit dem Ziel einer „ natürlichen ” Assimilation .
Die Vorgänge haben nach Dr . Tóths Überzeugung die Gemeinschaft insgesamt zerstört , nicht zuletzt auf der familiären Ebene : Der Prozess der Wiedervereinigung der Familien habe bis Mitte der 1960er Jahre angedauert . Ein wunder Punkt war die Restitution der enteigneten Häuser , was zu einem hohen Leerstand in den Dörfern führte . Bis Ende der 1960er Jahre wurden viele Häuser wieder in Besitz genommen , parallel dazu entvölkerten sich die Gemeinden immer mehr . Ende der 1970er , Anfang der 1980er Jahre habe eine eine Reorganisation auf der Gemeinschaftsebene eingesetzt , durch den Eintritt u . a . von Agrarakademikern , so Dr . Tóth .
Der Corvinus-Dozent Balázs Dobos wies auf Entwicklungen ab 1968 hin , wonach die Politik die Identität der Nationalitäten , denen fortan eine Brückenfunktionen zukommen sollte , fördern wollte . Die Kontrolle der Partei sei jedoch unangetastet geblieben , unter anderem zeigte sich das bei der Bestimmung der Führungspersönlichkeiten in den Nationalitätenverbänden . Der Politikwissenschaftler sprach von Grenzen für Initiativen von unten und von formalistischen Ergebnissen - mit einem starken Hang zur Kulturpflege . Darüber hinaus habe man jegliche Form von nationalistischen Tendenzen – oder was man dafür hielt – bekämpft . In den 1980ern habe man eine Liberalisierung erlebt , die Nationalitätenfrage sei aber immer mehr von der Frage der Auslandsmadjaren beeinflusst gewesen , ergänzte Dr . Tóth .
Gab es eine Wende auch in der Nationalitätenpolitik ?, lautete die Abschlussfrage . Dies bejahte Dobos , allein schon wegen der Freiheit der Vereinsgründung , auch andere Gesten ( Nationalitäten staatstragend und die Frage der Vertretung ) zeigten in eine positive Richtung . Angesichts der Entwicklungen bei den Volkszählungen und der Organisation der deutschen Nationalität könne man bei aller Kritik die Frage bejahen , so Dr . Beate Márkus . Dr . Ágnes Tóth sprach in diesem Zusammenhang von einer lebendigen Gemeinschaft in der Gegenwart , die sich artikulieren könne .
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