Sonntagsblatt 1/2021 | Page 6

Bewegte Zeiten
Madjarische Sprachwissenschaftlerinnen aus der Karpatoukraine über deutsche Sprache , Minderheitendasein und mögliche Auswirkungen des neuen Sprachgesetzes
SB : Sie sind beide Wissenschaftlerinnen und arbeiten an der Ungarischen Hochschule der Karpatoukraine Ferenc II . Rákóczi - Sie hielten Mitte Dezember 2020 im Rahmen einer vornehmlich englischsprachigen Konferenz zu Bildungsfragen einen deutschsprachigen Vortrag , was bemerkenswert ist . Worum ging es auf dieser Konferenz und in Ihrem Vortrag und warum haben Sie sich für Deutsch als Sprache entschieden , obwohl Sie , Frau Lechner , am Lehrstuhl für Anglistik arbeiten ?
Ilona Lechner ( IL ): Ich bin Germanistin , meine Kollegin ist Philologin für Englische Sprache und Literatur , aber sie spricht auch ausgezeichnet Deutsch . Auf einer Konferenz in deutscher Sprache einen Vortrag zu halten ist seltener möglich als eine in englischer Sprache . Da die Vielfältigkeit in unserem wissenschaftlichen Werdegang für uns sehr wichtig ist , haben wir diese Möglichkeit ergriffen . Auf der Konferenz gab es acht Sektionen zu verschiedenen Themenkreisen , z . B . Fremdsprachunterricht , familiärer Hintergrund der Schüler und dessen Einfluss auf den Lernprozess , Kinder mit speziellen Bedürfnissen im Bildungssystem , digitales Lernen usw . In unserem Vortrag - Motivierungsstrategien zum Fremdsprachenlernen im Tertiärbereich während der Pandemie - haben wir unsere Forschungsergebnisse über den Distanzunterricht vorgestellt .
Ilona Huszti ( IH ): Um die „ Hegemonie “ des Englischen als Weltsprache ein wenig zu brechen , haben wir uns für Deutsch entschieden und darauf hingewiesen , dass es für uns Ungarn in Transkarpatien wichtig ist , so viele Sprachen wie möglich zu kennen und zu verwenden . Als aufgeschlossene Menschen mit europäischer Denkweise verschließen wir uns keiner von ihnen .
SB : Welchen Stellenwert genießt die deutsche Sprache in der Karpatoukraine und speziell an Ihrer Hochschule ?
IL : In Transkarpatien unterrichtet man die deutsche Sprache nur noch an wenigen Schulen . So gab es bisher keinen Anspruch und keine Möglichkeit dafür , eine deutsche Fakultät an der Hochschule zu eröffnen . Die deutsche Sprache lernen die Studenten in der Fakultät für Englische Philologie als zweite Fremdsprache . Daneben wird das Deutsche als Fremdsprache für diejenigen unterrichtet , die in der Mittelschule Deutsch gelernt haben , aber es sind nur ziemlich wenige Studenten .
SB : Sie tragen einen deutschen Familiennamen , Frau Lechner - haben Sie deutsche Vorfahren ?
IL : Es ist ein Zufall , dass ich als Germanistin einen deutschen Familiennamen trage . Lechner ist nicht mein Geburtsname , ihn habe ich von meinem Mann „ geschenkt “ bekommen . Ob seine Familie deutsche Vorfahren hat , wenn ja , dann woher diese stammen , habe ich noch nicht erforscht .
SB : Wissen Sie etwas von dem Innenleben der zahlenmäßig kleinen deutschen Minderheit in der Karpatoukraine ?
IL : Zu der deutschen Minderheit haben wir fast keine Kontakte . Die ehemaligen schwäbischen Ansiedlerdörfer sind ziemlich weit entfernt von uns .
SB : Viel zahlreicher ist die madjarische Minderheit mit knapp 150.000 Seelen - wie würden Sie die gegenwärtige Lage der Minderheit beschreiben ? Mit welchen Herausforderungen hat sie zu kämpfen , in sprachlicher , religiöser und wirtschaftlicher Hinsicht ?
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IL : In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Bevölkerung - unabhängig von der Nationalität - sehr große Schwierigkeiten in Transkarpatien . Es gibt sehr wenige Arbeitsplätze , die Gehälter und Renten sind niedrig ; die Leute versuchen im Ausland Arbeit zu finden , um etwas Geld zu verdienen . Zahlreiche Kinder sind mit den Großeltern zu Hause , während die Eltern in Ungarn , Tschechien , Deutschland usw . arbeiten . Viele wandern mit der ganzen Familie aus . Manche bleiben aber in Transkarpatien und kämpfen ums Überleben . In sprachlicher und religiöser Hinsicht gab es bis jetzt keine oder wenige Probleme oder Konflikte . Die Wirkung der neuen Gesetze werden wir erst später spüren . Wir wissen noch nicht , wie die neuen Regelungen in der Wirklichkeit funktionieren werden und inwieweit all das unser tägliches Leben beeinflussen wird .
IH : Im wissenschaftlichen Bereich haben wir meiner Meinung nach die gleichen Chancen und müssen für den Erfolg nicht außerordentlich hart kämpfen , denn für Wissenschaftler ist der Fortschritt der Wissenschaft wichtig , nicht die alltäglichen politischen Kämpfe , die zum Beispiel mit dem Sprachgebrauch zusammenhängen . Was den Glauben anbelangt : In Transkarpatien gibt es freie Religionsausübung , wir kennen keine diskriminierenden Fälle .
SB : Die Karpatoukraine war immer ein multiethnischer Raum - Madjaren , Ukrainer , Rusinen , Deutsche , Juden und Rumänen lebten zusammen – was ist noch davon geblieben ?
IH : Dies ist immer noch der Fall , und immer mehr Russen leben hier , denn sie sind vor den Kämpfen in der Ostukraine nach Transkarpatien geflohen und haben sich hier niedergelassen . Die Einheimischen haben immer friedlich nebeneinander gelebt , die Konflikte werden eher von Politikern geschürt .
IL : Ich bin mit meiner Kollegin einverstanden . Bisher hatten wir keine Konflikte mit den anderen Nationalitäten und wir hoffen , dass die Leute auch im Weiteren nüchtern bleiben und sich von der Politik nicht beeinflussen lassen werden .
SB : Sie sind beide in der Wendezeit sozialisiert worden , - gedenkt man dieses Jahr des 30 . Jubiläums des Zerfalls der Sowjetunion –, welches Fazit der letzten dreißig Jahre würden Sie ziehen ?
IH : Vielleicht denken viele Menschen nostalgisch an die Zeiten , in denen das Leben einfacher und ruhiger war ?!
IL : Für mich bedeutet dieses Jubiläum , dieses Fest nichts . Ich denke , dass die ukrainische Regierung in den letzten 30 Jahren keinen Fortschritt aufweisen kann . Unser Leben hat sich verändert , weil sich die Umstände in ganz Europa , in der ganzen Welt verändert haben . Wir können reisen , durchs Internet haben wir einen Blick auf die Ereignisse in der Welt . Also diese positiven Veränderungen sind nicht der Regierung zu verdanken .
SB : Die madjarische Minderheit verfügt über ungarischsprachige Schulen von der Grundschule bis zur Hochschule - erzählen Sie bitte ein wenig über dieses Schulsystem !
IL : Es war ein sehr demokratisches System - bis jetzt . Seitdem das neue Sprach- und Bildungsgesetz in Kraft getreten ist , können die Kinder nur in der Grundschule in ihrer Muttersprache lernen .
IH : Dieses System funktionierte bisher gut . Die Kinder konnten die verschiedenen Schulfächer in ihrer Muttersprache lernen . Daneben hatten sie Stunden im Fach Ukrainische Sprache und Literatur . Mit dem Unterricht der Staatssprache gab es schon immer Probleme . Sie wird für die ungarischsprachigen Kinder nicht als eine Fremdsprache unterrichtet . Die Kinder werden in der ersten Klasse so behandelt , als ob sie sich die ukrainische Sprache schon im Kindergarten oder zu Hause in der Familie angeeignet hätten . Die Vertreter der ungarischen Minderheit haben
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