Sonntagsblatt 1/2021 | Page 24

mit allen unseren Habseligkeiten einfach abgeladen . Da saßen wir nun - die Männer mit schwarzen Hüten und hohen Lackstiefeln und die Frauen mit ihren weiten mehrlagigen Schwabenröcken - auf unseren Bündeln und Kisten . Im Nu verbreitete es sich im Ort wie ein Lauffeuer : „ Die ungarischen Zigeuner sind da !” Und die Einwohner strömten herbei um uns – schrecklich und erniedrigend – zu begaffen . Diese Tortur dauerte bis zum Nachmittag , bis uns die Stadtverwaltung endlich Unterkünfte zuwies und die einzelnen Familien mit Pferdewagen dorthin transportiert wurden .
Unsere Familie landete vor einem hohen Haus , der Gespannfahrer lud alles auf die Straße vor die Haustür , übergab die Einweisungspapiere dem Hauswirt und fuhr davon . Der Hausbesitzer weigerte sich aber kategorisch , „ Zigeuner ” in sein Haus zu lassen . Da saßen wir wieder da , mitten auf der Straße , langsam wurde es schon dunkel , meine Mutter weinte bitterlich – der Hauswirt hatte aber kein Erbarmen . Ganz anders eine Frau von der gegenüberliegenden Straßenseite ! Sie bat uns verschüchterte und durchgefrorene Kinder in ihre Wohnung und gab uns warmen Tee und Brot mit einem eigentümlichen , schwarzen , flüssigen , aber süß schmeckenden Saft ( erst später konnten wir ihn als Zuckerrübensirup aus der örtlichen Zuckerfabrik identifizieren ). Das Wohnungsdrama löste sich derart , dass uns schon bei voller Dunkelheit wieder ein Pferdegespannfahrer auflud und in die eben genannte Zuckerfabrik abtransportierte . Dort brachte man uns im Speisesaal der Belegschaft unter und wir schliefen auf Tischen , Stühlen und auf dem Fußboden . Da der Saal auch tagtäglich von der Belegschaft benutzt wurde und wir zwei-drei Tage dort zubringen mussten , hatten wir wieder genügend Gaffer .
Nach Tagen bekamen wir endlich eine Unterkunft : Zwei kleine Räume von insgesamt 12 Quadratmetern für vier Personen ! ( Nur zum Vergleich : Aktuell stehen laut BGH-Urteil Flüchtlingsfamilien mit vier Personen in Deutschland bis zu 95 Quadratmeter Wohnraum zu , der staatlich , einschließlich Heizkosten , finanziert wird !) Notdürftig erhielten oder erbettelten wir von Bewohnern ein paar alte Möbelstücke und zwei Betten und richteten uns einigermaßen überlebensfähig ( anders kann man es nicht nennen ) ein . Nur zur Verdeutlichung : Wir fanden uns nach diesen dramatischen Wochen wieder in zwei winzigen Räumen ( insgesamt 12 Quadratmeter ), hatten im ersten Zimmer einen Küchenherd ( als einzige Heizungsmöglichkeit ), ein altes Sofa unterm Fenster ( worauf ich nachts schlief ), einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen und nebenan im zweiten Zimmer zwei Betten , worin meine Eltern mit meinem fünfjährigen Bruder schliefen und einen kleinen Kleiderschrank , wobei beide Zimmer mit zwei Türen und drei Fenstern das Aufstellen von Unterbringungsgegenständen weiter beschränkten . Das sogenannte „ Plumps-Klo ” war auf dem Hof für mehrere Mieter , ebenso der Waschhausschuppen , wo wir wie andere Wasser holen und unsere Briketts stapeln mussten , die beim Wasserholen bestimmter Mieter des Hauses immer dahinschrumpften - aber wir waren ja die diebischen Zigeuner !
Weil es hier gut her passt , will ich es nicht unerwähnt lassen : Wir hatten über diese schreckliche Zeit Räucherware ( Wurst , Speck und Schinken ) aus der alten Heimat hinweggerettet , die wir in unserer Enge im einen der beiden Nordfenster aufhängten , das wir mit Zeitungspapier notdürftig abgedunkelt hatten . Eines Tages erschienen zwei Polizisten und beriefen sich auf eine Anzeige , dass wir Fleischwaren im Fenster hätten , die wir ( natürlich die „ Zigeuner ”) gestohlen hätten . Mit viel Mühe und Not sowie einer kleinen Kostprobe ( klappt immer !) konnten wir unsere Fleischwaren behalten , die damals mehr Wert hatten als Gold und Geld . Solche Vorkommnisse bezeugen aber nur , welche gesellschaftliche Position wir in unserer neuen Umgebung einnahmen .
Als eines Tages unser katholischer Pfarrer seinem neuen jungen Messdiener zu Hause einen Besuch abstattete , war er sichtlich
24 erschrocken und berührt über unsere Wohn- und Lebenssituation , mit dem Ergebnis , dass ich nach der täglichen Morgenmesse wiederholt zum Frühstück beim Pfarrer eingeladen wurde . Auch von den sogenannten Care-Paketen , die ständig im Pfarrhaus eingingen , fiel hin und an einiges ab .
Noch eine Episode zur Verdeutlichung unserer Lebenssituation will ich hier noch einfügen . Irgendein mitfühlender Lützener schenkte uns ein Kaninchen („ Häsin ”) mit ca . sechs-acht ganz jungen , niedlichen „ Häschen ”. In unserer Notsituation kam als Unterbringungsmöglichkeit nur eine Holzkiste neben dem warmen Küchenherd in Frage . So „ wohnte ” in dieser Enge noch eine Kaninchendame mit ihren Jungen bei uns . Ich wurde nun tagtäglich ausgeschickt , im Straßengraben der F87 ( heute B87 ) nach Leipzig , heimlich , da ja selbst dieser verpachtet war - , Gras zu rupfen für unsere „ Viehhaltung ” - für Tiere , die wir in Isszimmer gar nicht kannten . Als die „ Kaninchenmutti ” auch noch verstarb , versuchten wir mit kleinen Fläschchen mit Nuckeln ( ursprünglich mit Liebensperlen gefüllt ) die bedauernswerten „ Waisenkinder ” am Leben zu erhalten . Aber Tag für Tag trugen wir mit traurigem Herzen - besonders wir Kinder – Eines nach dem Anderen „ zu Grabe ”. Der kleinste „ Hopser ” lebte noch am längsten und fand sich eines Frühmorgens bei mir Wärme und Nähe suchend in meinem „ Sofabett ”. Alsbald begruben wir mit Tränen in den Augen auch ihn – so endete unsere „ Tierhaltung ” für die nächsten Jahre sehr traurig .
Welch erbärmlicher elendiger Absturz , nachdem uns in Ungarn Haus und Hof mit allem Vieh und Inventar einfach weggenommen , ja geraubt wurde , vertrieben ( nicht geflohen ) in diese Not , in dieses Elend – was für eine menschliche Tragödie , vielleicht kann man sie jetzt ein wenig nachfühlen , zumal wir in dieser Enge sogar noch fünf Jahre (!) leben mussten !
Hierher passt auch das verängstigende Erlebnis , das wir unter ungefähr acht Kindern aus Isszimmer machten , als wir unseren ersten gemeinsamen Stadtrundgang machen wollten . Im Nu hatten wir eine Horde johlender , pöbelnder einheimischer Kinder hinter uns , die uns förmlich durch die Straßen hetzten , bis uns endlich vom Bahnhof in Gruppen kommende Schichtarbeiter befreiten .
Mit diesen eindrucksvollen Beispielen will ich verdeutlichen , gegen welche Vorurteile und Hindernisse wir bei unserer Ankunft in unserer neuen Umgebung anzukämpfen hatten . Nicht nur der Verlust unserer Heimat , unseres Hab und Guts tat weh , sondern auch die Not und die Ablehnung bis hin zur Diskriminierung , die uns in der neuen , so fremden Umgebung entgegenschlug . Hier zu bestehen , die neuen Herausforderungen anzunehmen , war für Groß und Klein , für Erwachsene wie Kinder der schwere , aber einzige mögliche Weg , den wir gehen mussten .
Aber wir wären keine echten Isszimmerer mit dem Pioniergeist unserer Ahnen gewesen , hätten wir diese Herausforderungen nicht mit verbissener Zähigkeit , gegenseitiger Hilfe und eigener Selbstlosigkeit entschieden angenommen – was ich im nächsten Teil ( Teil 4 ) aus meinen Erinnerungen darstellen möchte .
Doch kann ich in einer heutigen kühlen Nachbetrachtung zu unserer Vertreibung nicht unerwähnt lassen , dass uns wohl Leid und Unrecht zugefügt wurde , aber die Jahre des langsamen und unentwegten Niedergangs Isszimmers durch Zwangskollektivierung der Landwirtschaft , die Brandmarkung als „ Kulaken ” unter der stalinistischen Diktatur Rákosis , der Zerfall der ungarndeutschen Tradition ( siehe Teil 1 ), die Landflucht der Jugend und der Verlust unserer deutschen Identität sind uns letztendlich erspart geblieben , ebenso die so schmerzliche Veränderung , dass Isszimmer heute ( siehe Teil 5 ) als ungarndeutsches Dorf unkenntlich gemacht worden ist . Ob ich selbst als Sohn eines „ Kulaken ” die Chance zur persönlichen Entwicklung in Ungarn so wie hier
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