Sonntagsblatt 1/2021 | Page 23

unmittelbar nach Kriegsende , so dass diese finstere Drohung wie ein Damoklesschwert über Isszimmer schwebte . Aber mit dem Verstreichen von Monaten , ja sogar Jahren stieg die Hoffnung , dass dem abgelegenen Dorf Isszimmer dieser bittere Kelch doch erspart bleibe . Aber Ende 1947 / Anfang 1948 fiel doch das Damoklesschwert über Isszimmer .
Eine sogenannte Aussiedlerkommission erstellte von den Auszusiedelnden eine Liste , die wohl von den Bündlern ( bundisták ), also den ehemaligen Mitgliedern des Volksbundes der Deutschen in Ungarn , dominiert wurde , aber auch von subjektiven , willkürlichen Gesichtspunkten geprägt war .
Viele Angeli-Familien waren als Volksbündler ( siehe Teil 2 !) natürlich auch dabei ; wie sehr dabei der Tatbestand eine Rolle spielte , dass die Angelis schon um die Jahrhundertwende nach einer amtlichen statistischen Erhebung mit 530 Joch (= 302 Hektar ) den größten Grundbesitz in Isszimmer besaßen , bleibt der Phantasie überlassen . Wie sehr bei der Vertreibung auch schnöde wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielten , habe ich ja schon einleitend aufgeführt , aber welche Willkür und Absurdität dabei auch eine Rolle spielten , zeigt der Fall der Brüder meiner Mutter . Beide wurden noch als Jugendliche im letzten Kriegsjahr zur ungarischen Armee eingezogen , gerieten in russische Kriegsgefangenschaft und wurden erst ein halbes Jahr nach unserer Vertreibung nach Isszimmer entlassen . Obwohl sie bis zuletzt noch als Jugendliche im Haushalt meines Großvaters gelebt hatten und bei einer rechtzeitigen Rückkehr ganz sicher mitvertrieben worden wären , ließ man sie trotz jahrelanger Proteste und Eingaben nicht mehr zu uns nach Deutschland nachreisen , nicht mal als Besucher oder zur Beerdigung ihrer Mutter ( Juli 1951 ), die als letzten Wunsch ihre Söhne so gerne wiedergesehen hätte . Wenn sie nun wenigstens ihr Elternhaus mit allen ihren materiellen Hinterlassenschaften wiederbekommen hätten , könnte man noch eine einigermaßen logische Handlung erkennen , aber nichts dergleichen ! Sie mussten sich mittellos als Lohnarbeiter verdingen ( z . B . als Grubenarbeiter unter Tage ) und erst nach Jahren hat einer von ihnen das Elternhaus für einen teuren „ Liebhaberpreis ” wieder zurückgekauft . Schließlich gründeten sie Familien in Isszimmer und bei Budapest , zu denen wir nach wie vor besten Kontakt haben . Dass unsere Familie auch zu den Auszuweisenden gehörte , erschütterte meine Eltern zutiefst . Meine Mutter schickte mich 10-jährigen Jungen ständig dem Vater hinterher , „ damit er sich nichts antut ”.
Es ist ja auch unfassbar tragisch , wenn man von heute auf morgen sein Haus und Hof , seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz und sein von den Ahnen über Jahrhunderte mühsam aufgebautes Besitztum verliert . Was das bedeutet , können nur diejenigen nachvollziehen , die das miterleben mussten oder selbst in ihrem Leben vor Unterdrückung und Unfreiheit flohen . Innerhalb von zwei , drei Tagen musste jede Familie das Nötigste packen , alles andere ( Hausrat , Lebensmittel , Textilien , Möbel , die Tiere des gesamten Bauernhofes , landwirtschaftliche Maschinen und Feldgeräte u . v . m .) musste auf strenge Anweisung in Haus und Hof an Ort und Stelle verbleiben . Gute Freunde und zurückbleibende Verwandte trauten sich auch nicht etwas zu übernehmen , damit sie nicht auch noch deportiert wurden .
Mitten im kalten Winter , am 10 . Februar 1948 , setzte sich ein trauriger Zug von Pferdegespannen unter Kirchenglockengeläut und unter großer emotionaler Anteilnahme der Dorfbewohner und Freunde in Richtung Bahnhof Bodajk in Bewegung . Insgesamt wurden 66 Familien mit 346 Personen aus Isszimmer vertrieben . Auf dem Bahnhof Bodajk trafen noch zahlreiche Vertriebene aus anderen Orten ein ( allein aus Moor / Mór 436 Familien mit 1349 Personen ). Alle wurden in Viehwaggons mit all ihrem Gepäck gepfercht und ab ging die Fahrt in eine ungewisse Zukunft , in ein für uns so unbekanntes Land .
Diese relativ späte Vertreibung hatte wohl den Vorteil , dass uns
SoNNTAGSBLATT die schlimmsten Nachkriegshungerjahre in Deutschland zum Teil erspart blieben , aber den Nachteil , dass wir uns den mühseligen Wiederaufbau der kriegszerstörten Bauernwirtschaft ( siehe Teil 2 !) hätten ersparen können und obendrein den viel größeren Nachteil , dass wir in die Sowjetisch Besetzte Zone ( SBZ ) transportiert wurden und nicht - wie zuvor - in die amerikanische Zone kamen , da die amerikanische Administration sich weigerte , weitere Vertriebene aus Ungarn aufzunehmen . In den Waggons mit jeweils 36 Personen und viel Gepäck war es furchtbar eng , stickig und natürlich obendrein kalt . Als in der ČSSR - die längste Strecke unserer Fahrt - auch noch die Wagen total verschlossen wurden , war uns rücksichtslos jegliche Möglichkeit genommen , unsere Notdurft draußen zu verrichten . Aus dieser Notsituation heraus wurde einfach der Fußboden im Waggon aufgerissen und so der nötige Abgang geschaffen ; Sichtschutz für die Frauen schufen die Männer , indem sie Decken aufhielten .
Wir Kinder krochen vor Kälte unter die Federbetten oder stritten uns am winzigen Fenster , dem einzigen Blick- und Lichtzugang , um einen Fensterplatz . So ging die traurige und beschwerliche Fahrt meist nachts mit vielen Stillstandszeiten weiter , weiter ohne Information und mit dem Gefühl nie mehr ein Ziel zu erreichen .
Doch das Ende des erzwungenen , inhumanen Menschentransports im Viehwagen kam doch noch : Nach acht Tagen kamen wir ins Quarantänelager Wolfen , Kreis Bitterfeld ( SBZ ). Endlich geschlossene Räume in Baracken , Wasch- und Wäschemöglichkeiten , freie Beweglichkeit wenigstens innerhalb des umzäunten Lagers – eine Wohltat für uns Kinder . Sogar Verpflegung gab es , was aber unseren verwöhnten Bauerngaumen gar nicht zusagte . Ich erinnere mich noch heute an eine schleimige Graupensuppe . Kommentar : Igitt , die Deutschen essen Getreidekörner ! Bis heute mag ich keine Graupen .
Wir brieten in der vorhandenen Kochnische über offenem Feuer Wurst , Eier und Speck und staunten nicht schlecht , als am Lagerzaun sich Einwohner einfanden , um unsere Kartoffelschalen zu erbetteln . Kommentar der Lagerköche : Ihr werdet noch froh sein , wenn ihr solches Essen draußen habt ! Da konnte es einem ja schon Angst und Bange werden .
Nach vier Wochen erfolgte - zum Glück unter Berücksichtigung der engeren Verwandtschaftsverhältnisse - die Verteilung der Ungarndeutschen von Isszimmer meistens auf kleinere Orte in der Nähe der mitteldeutschen Chemiezentren Leuna , Buna , Bitterfeld , Bernburg und auch ins Mansfelder Land ( Kupferbergbau ), da man dort noch Arbeitskräfte benötigte . Trotz dieser Zerstreuung und ohne jegliche Hilfe durch Kommunikationsmittel ( z . B . Telefon ) hielten sie , besonders die Älteren , über Jahrzehnte noch enge Kontakte . Man traf sich zu geselligem Zusammensein bei nun wieder selbstgemachtem Wein ( leider aber nur Obstwein ) und schwelgte in Erinnerung von „ Daheim ” und von alten Zeiten – eine Seelenmassage für die traumatisierte Psyche .
Großtreffen waren auch die immer häufiger werdenden Beerdigungen . Unvergessen bleibt mir die Beisetzung meiner Großmutter im Juli 1951 . Hinter dem mit Pferden gezogenen Leichenwagen zog vom Trauerhaus ein riesiger , langer Trauerzug vor allem von Isszimmerer Landsleuten bis zum Friedhof , die alteingesessenen Einwohner staunten , sowas hatten die noch nicht gesehen .
Uns und unsere engen Verwandten ( Großeltern , Schwager mit Familie ) sowie noch ein paar andere Familien transportierten die LKWs vom Lager Wolfen nach Lützen , einer Kleinstadt zwischen Leuna / Merseburg und Leipzig . Für Geschichtsinteressierte : Lützen ist bekannt durch seine eindrucksvolle Gedenkstätte für den im Dreißigjährigen Krieg hier gefallenen Schwedenkönig Gustav II . Adolf . Dort wurden wir am Vormittag mitten auf dem Marktplatz
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