Sonntagsblatt 1/2021 | Page 17

tholischen Kirche verkündeten Sankt-Emmerich-Jahr . Dieses Stadtviertel kennzeichnete eine oftmals durch bairisch-österreichische Wurzeln mitbestimmte christlich-bürgerliche Weltauffassung und Haltung . Die beiden , zwischen den zwei Weltkriegen von geistlichen Orden erbauten großen Gymnasien – das Sankt-Emmerich-Gymnasium der Zisterzienser für Jungen und das Sankt-Margarete-Gymnasium der Redemptionistinnen für Mädchen - sorgten für eine solide Erziehung der Jugend auf der Basis von Moral und Wissen . Die Familie Pöschl – Mädchenname meiner Mutter – war tief verwurzelt in diesem Milieu . Sie und ihre Schwester lernten bei den Schwestern , ihr Bruder bei den Zisterziensern . So kam es zu dem Fall , dass mein Onkel väterlicherseits meinen Onkel mütterlicherseits etwa vier Jahre lang in Deutsch und Latein unterrichtete . Die Sankt-Emmerich-Stadt – damals für ein größeres Gebiet geltend – war besonders ein Dorn im Auge der Kommunisten . Sie schonten kein Mittel , dieses Milieu zu zerschlagen und seine Bewohner zu denunzieren .
Mikrokosmos Ost- und Mitteleuropa Deutsche Volksgruppen
Das Erbe ( 2 )
Wenn Diskussionen mit aktualpolitischen Bezügen das Familienerbe in Erinnerung rufen
Von Richard Guth
Am 22 . Dezember gedachte die deutsche Gemeinschaft einer schicksalsträchtigen Regierungsverordnung - erlassen 75 Jahre zuvor - , die das Schicksal der Deutschen besiegelte . Anlässlich dieses Jahrestages widmete sich das von uns bereits mehrfach zitierte Internetportal Azonnali diesem Ereignis – der Beitrag selbst enthielt interessante Details , wenngleich der Autor gerade bei der Frage der Verantwortung der ungarischen Politik zu ungenau formulierte und den Eindruck hinterließ , als würde der Geist des Potsdamer Diktats bald wieder auferstehen . Eine erstaunlich rege Diskussion entwickelte sich unter dem auch im Facebook veröffentlichten Beitrag – dabei fiel mir dieser Eintrag besonders auf :
„ Familiengeschichten
Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war Schwäbin aus der Nähe von Sexard , so wie ihr Mann mit dem Namen Bőhm ( Böhm ). Sie gebar ihm zwei Mädchen , meine Oma Maria und ihre kleine Schwester Eva . Sie waren blond , blauäugig und fleißig , mit langweiligem Humor , denke ich , so wie die Schwaben allgemein .

Als 1938 der Volksbund der Deutschen in Ungarn gegründet wurde , hat meine Urgroßmutter , wahrlich ein Dickschädel , einen Schuss bekommen , weil sie an ihrem Haus die ungarische Fahne gehisst hat , obwohl sie angeblich kein Wort Ungarisch sprach . Auf die Frage der Nachbarn hin („ Was ist los , bist du verrückt ?”) entgegnete sie der Familienlegende nach schlicht : „ Ungarn ist mein Zuhause .” Im Übrigen lässt diese unpraktische Handlung darauf schließen , dass in der Familie sie die Hose anhatte , was nicht verwunderlich ist , weil die paar Morgen Tolnauer Bodenbesitz , die mein Uropa bestellte , ihr Erbe waren . s

Das Amt für Volksfürsorge ( Népgondozó Hivatal ), das zwecks Vertreibung der „ kollektiv Schuldigen ” aufgestellt wurde ( Leiter war József Antall sen .), entzog 200.000 Menschen deutscher Nationalität die ungarische Staatsbürgerschaft , beschlagnahmte ihren Besitz und trieb sie nach Deutschland , das in Trümmern lag . Gemäß der Durchführungsverordnung zur Vertreibung 70.010 / 1946 des Innenministeriums des kommunistischen Ressortchefs Imre Nagy wurde auch die Verwandtschaft meiner Bőhm-Uroma in die Waggons verladen .
Es stellt sich daher die berechtigte Frage : Was habe ich denn hier überhaupt verloren ? Die Antwort ist recht simpel : Die Komitats ” volksfürsorger ” haben sich noch an die Fahnenaktion meiner Uroma aus dem Jahre 1938 erinnert , deswegen schafften sie sie nicht außer Landes . Ganz im Gegenteil ! Während der ersten Welle der Kollektivierung , irgendwann um 1950 , erhielt sie , nachdem man ihr den Tolnauer Grundbesitz wegnahm , in Wudersch , auf dem Frankberg vier Morgen Ziegenweide , gewissermaßen als Kompensation , was sich aber als landwirtschaftlich nutzlos erwies . Die Weide gehörte einst dem schwäbischen Schuldirektor von Wudersch , der auch nicht gerade glimpflich davonkam . Seine Nachkommen , falls es welche gibt , könnten wegen des erlittenen Unrechts zusammen mit meinen Uronkeln und -tanten über die Madjaren schimpfen , zwischen zwei Heineken , unter dem Motto „ Scheiße !”, während sie Fortuna Köln die Daumen drücken , jedenfalls , wenn sie Fußball mögen .
Meine Uroma mütterlicherseits war weder ein Nazi noch eine Kommunistin , bloß eine einfache , bodenständige Frau , deren Nachbarn 1938 sie für verrückt hielten und die so loyal war , dass sie die ungarische Fahne hisste , obwohl sie die Sprache nicht beherrschte , weswegen sie dann nicht in die Nähe von Köln vertrieben wurde wie ihre Geschwister und die gegen den Bodenbesitz , der den Lebensunterhalt sicherte , eine Ziegenweide erhielt , und deren selbstzerstörerische Gene ich in mir trage , die ich dann mit dem sturen Festhalten und dem geerbten Teilgrundstück weitergeben werde .
Es ist ihr zu verdanken , dass meine Familie „ Kleingrundbesitzer ” in Wudersch wurde und ich ein Mischling , der nicht Politikern , Parteien und Ideologien gegenüber loyal ist , sondern seiner Heimat .”
Soweit der Facebook-Eintrag eines Wuderschers , der nach eigenem Bekunden infolge einer heftigen aktualpolitischen Diskussion im Facebook entstand , als seine Vaterlandstreue als bekennender „ Liberaler ” in Frage gestellt wurde ! Auch wenn Patriotismus und Bekenntnis zur eigenen Herkunft - zum „ deutschen Volk ” in Ungarn - einander nie wirklich ausgeschlossen haben ( siehe Bleyers Konzept !), erscheint dieser Eintrag dennoch als bemerkenswert : der Lebensweg der deutschen Urgroßmutter aus der Tolnau , die in einer einst deutschen Gemeinde in der Nähe der ungarischen Hauptstadt eine neue Heimat fand . Nimród Vadas heißt der Urenkel - der Name ist dabei ein Pseudonym , um die eigene Familie zu schützen - , der sprachlich eloquent diese Gedanken der Öffentlichkeit mitteilte und sich dabei deutscher Wendungen bediente , obwohl er - als zu einem Viertel deutsch - der Sprache der Urgroßmutter nicht mächtig sei . Das deutsche Erbe war und ist für ihn stets im Unterbewusstsein präsent , „ auf der Ebene der Genetik ”, wie er sagt , und es hat nach eigenem Bekunden seine Identität nie besonders beeinflusst . „ Ich habe eine ungarische / madjarische Identität , Ungarisch ist meine Muttersprache und meine Kultur , in Ungarn fühle ich mich zu Hause , das ist meine Vergangenheit ”, so der Kommunikationsexperte . So hat er nach eigenen Angaben auch kaum Bezüge zu ungarndeutschen Aktivitäten und zur ungarndeutschen Gegenwart in Wudersch - also einer von Hunderttausenden , wenn nicht Millionen Deutschstämmigen in unserem Lande .
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