Sonntagsblatt 1/2019 | Page 20

Familie, deswegen durften wir wieder heim. Mein Vater vertraute aber nicht darauf, dass wir lange bleiben dürfen, deswegen ha- ben wir auch nicht wieder unsere Sachen ausgepackt. Am Abend hat man uns wieder abgeholt, um Punkt Mitternacht. Zuerst hat man uns in die Totiser Kolonie gebracht, aber da wir den Zug nicht mehr einholen konnten, liefen wir bis Szob. Dort nahm man uns alles, was wir hatten, ab, Schinken, Salami, alles. Erst im Nachhinein durften wir es zurückkaufen, gegen Geld. Wir waren fast zwei Monate unterwegs. Wir hielten alle vier Tage an, dann konnten wir den Zug verlassen um unsere Notdurft zu verrichten, die verdreckten Eimer wurden ausgeschüttet. Im Zug hat man hin und wieder gekocht, aber meist aßen wir was Kaltes. Wir hielten zuerst in Pirna, dann in Zöblitz, dort konnten wir zum ersten Mal den Zug verlassen. Wir wurden in einer Turnhalle untergebracht. Jeder hat eine Blechdose erhalten, aus der wir essen konnten. Die Erwachsenen haben einen, die Kinder einen halben Esslöffel Essen bekommen. Aus Zöblitz fuhren wir nach Olbernhau weiter, wo wir bei einer netten Familie untergebracht wurden. Wir haben von ihnen Geschirr, Holz und alles Mögliche, was wir benötigten, erhalten. Meine Großeltern haben zwei Häu- ser weiter gewohnt, aber sie fanden bei einem Dreckskerl Unter- schlupf. Er pflegte stets zu sagen, dass wir ungarische Zigeuner seien und dorthin zurückkehren sollen, wo wir herkommen. Als unser Hausherr davon erfuhr, bot er an, dass unsere Großeltern das restliche Zimmer beziehen, so konnten wir zusammen woh- nen. So war es halt. In Ungarn waren wir Deutsche, in Deutsch- land ungarische Zigeuner. Winter 1947 sind mein Vater und meine Mutter nach West- deutschland, nach Regensburg geflüchtet. Meine Mutter kam zurück, um die beiden Kinder zu holen und zeigte meiner Oma den Weg und holte im Sommer meine Urgroßmutter und Groß- mutter rüber. Meine Urgroßmutter musste sie auf dem Rücken über die Grenze bringen, weil sie ein offenes Bein hatte und nicht laufen konnte. In Regensburg wohnten wir wieder in einem Auf- nahmelager, in einer alten Schule. Daheim durften wir frei auf der Straße herumlaufen, im Lager waren wir eingesperrt. Wir waren zu 16 in einem Zimmer, schliefen auf Stockbetten. Das Problem bestand darin, dass wir alles auf Karte kriegten, den Zucker, das Fett, das Mehl. Die Pfanne hat man nie ausgewaschen, es blieb immer ein wenig Fett drin. Nachdem mein Vater eine Anstellung in der Ziegelfabrik erhielt, ging es mit uns bergauf. Die Fabrik hatte eine Kantine, die später von meinem Vater erworben wurde. Zum damaligen Zeitpunkt konnte auch meine Mutter bereits arbeiten. Dann wurde das La- ger geräumt und wir haben eine Dreizimmerwohnung in einem Plattenneubau erhalten. Die Kantine musste man aufgeben, aber zum Glück konnte mein Vater an den Blockhäusern ein Ge- schäftslokal mieten. Während dessen habe ich - sowohl in Ost- als auch in West- deutschland - die Schule besucht. Es war nicht einfach, weil man an beiden Orten unterschiedlich spricht, so dass ich die jewei- lige Sprache des Volkes neu erlernen musste. Vier Jahrgänge lernten zusammen, zum einen die von 1 bis 4, zum anderen die von 5 bis 8. Ich konnte auch eine weiterführende Schule besu- chen und habe zwei Berufe erlernt, den eines Filialleiters und den eines Koches. Ich habe meinen Mann kennengelernt, mit dem ich mehrfach versucht habe, ein Haus zu erwerben. Nach seinem Tod habe ich in Kätschka/Kecskéd ein altes Bauernhaus erworben und zog mit meiner Mutter um. Ironie des Schicksals ist, dass, bis es soweit war, dass die Renovierungsarbeiten ab- geschlossen waren, unser altes Haus in Kirne zum Verkauf an- geboten wurde, das ich ursprünglich kaufen wollte.” de, um zu packen. Sie hielten sich im Haus auf, bis wir mit dem Packen begonnen haben. Meine Mutter hat in einen Strohsack vier Laib Brot, was sie am Vortrag gebacken hat, drei Liter Fett, Marmelade, Salz, Speck und Obst aus dem Garten gelegt. Klei- dungsstücke hätten gar nicht in das Bündel gepasst. Ein ver- schließbares Glas haben wir mit Wasser gefüllt, unsere Mutter hat noch Schmalzbrot geschmiert, sollten wir unterwegs Hunger bekommen. Bevor wir unser Haus verlassen haben, brachten wir unsere Dokumente zu meinem ältesten Bruder. Die Säcke und Truhen aus unserer Straße wurden auf einen Pferdewagen geladen. Ein Familienmitglied musste dem Wagen hinterherlaufen, damit man wusste, welches Gepäck wem gehört. Die anderen liefen auch zu Fuß zum Bahnhof. Als wir an der Schranke ankamen, waren wir bereits eine richtige Menschenmasse. Dort hielt ein Polizist eine Liste in der Hand und ließ nur diejenigen durch, die auf der Liste standen. Unser Bündel wurde in die Ecke eines leeren Waggons gelegt, der noch mit zwanzig weiteren Bündeln beladen wurde. Während dessen brachte man immer mehr Men- schen beziehungsweise kamen immer mehr Dorfbewohner um Abschied zu nehmen. Ich erinnere mich, dass es einen Mann gab, der drei Hüte anhatte. Gegen Mittag kursierte das Gerücht, dass die Bergleute, wenn sie ihre Dokumente vorzeigen können, nach Hause gehen könn- ten. Da alle meine drei Brüder im Bergwerk arbeiteten, sind wir sofort aktiv geworden. Auf der anderen Seite der Schranke stand mein damaliger Buhler, der aufs Fahrrad sprang und un- sere Dokumente holte. Als meine Brüder diese Dokumente der Dreierkommission am Teichrand zeigten, wurden wir entlassen. Bis unser Bündel hervorgeholt wurde, ging die Sonne unter. Die Kirner Turmuhr hat Mitternacht geschlagen, als unser Pferdewa- gen daran vorbeifuhr. Die Gendarmen haben die Tür des Hauses versiegelt und den Schlüssel beim Gemeindeamt abgegeben, so dass meine Mutter ihn erst am Morgen abholen konnte. In dieser Nacht haben wir draußen an der Türschwelle geschlafen. Wir haben drei Tage gewartet, bis wir mit dem Auspacken begannen, da im Dorf das Gerücht herumging, dass man diejenigen, die man entlassen hat, wieder abholen würde. Zum Glück geschah es nicht, und wir konnten zu Hause bleiben. Später wurden auch in Kirne Madjaren aus dem ehemaligen Oberungarn angesiedelt. Bei uns wohnte im hinteren Zimmer eine Weile ein junges Ehe- paar.” Anna Fábián „Damals habe ich in Obergalla gedient, Häuser geputzt und Kin- der gehütet. An einem Donnerstag kam die jüngere Schwester eines Dienstmädchens aus unserem Dorf, mit der Nachricht, dass wir schleunigst nach Hause kommen sollen, weil die Ver- treibung begann. Wir liefen als Abkürzung über die Weingärten, aber die Kirner Dorfflur wurde bereits am Morgen gesperrt. Viele fuhren im Morgengrauen nach Totis/Tata um einzukaufen, aber zurück ließ man sie nicht mehr. Leidiglich an der Kellerreihe standen keine Gendarmen, dort konnten wir ins Dorf gelangen. Als ich zu Hause ankam, waren meine Mutter und die anderen bereits mit dem Packen beschäftigt. Es wurden bereits viele Fa- milien weggebracht. Magdalene Pammer Ich habe gesehen, dass die Nachbarsfrau ihre Töchter anzog, während diese weinten, weil sie die viele Kleidung nicht mehr tragen konnten. Ich war schon immer neugierig und lief deshalb bis zur Dorfmitte um mich umzuschauen. Ich werde einen älteren Mann nie vergessen, der mit seinem Bündel am Tor stand und heftig weinte. Überall sah ich Menschen mit Tränen in den Au- gen. Wir wurden nicht weggebracht, weil die Familien der Berg- leute bleiben konnten, so mussten wir, nachdem wir nachweisen konnten, dass Opa dort arbeitet, nicht zum Bahnhof. „Unser Haus war das erste im Dorf, wo die Gendarmen geklopft haben. Die beiden Männer mittleren Alters gaben uns eine Stun- Es gab Familien, denen die Polizisten halfen, um hier zu blei- ben. Meinem Schwiegervater beispielsweise – als sie ihren 20 SoNNTAGSBLATT