Sonntagsblatt 1/2019 | Page 19

verlassen, viele Familien wurden dabei getrennt. Kirne gehörte zu den schwäbischen Dörfern, in den die Depor- tation der Deutschen angeordnet wurde. Die Mehrheit der Be- völkerung in der im Komitat Komorn-Gran gelegenen Gemeinde war schwäbisch. Ihre Vorfahren wurden nach dem Ende der Os- manenherrschaft ins Land gerufen. Die meisten Dorfbewohner waren deutscher Muttersprache, viele der Alten konnten nicht oder kaum Ungarisch. Die Vertreibung traf die Gemeinde unerwartet. Am 27. August 1947 wurde das gesamte Gemeindegebiet abgesperrt, am Dorfrand standen überall Gendarmen. Die Soldaten klopften mit Listen in der Hand einzeln an den Haustüren und riefen die Bewohner auf, binnen zwei Stunden zu packen. Am Vorabend ahnte noch keiner, was ihn am nächsten Tag erwartet. Die Er- wachsenen durften 20 kg pro Kopf mitnehmen, sie packten meist Lebensmittel in ihr Bündel. Von der Kleidung zogen sie so viel wie möglich an, damit dies nicht zum Gewicht des Bündels dazu- gezählt wurde. Binnen eines Tages wurden 101 Familien nach Deutschland umgesiedelt. All dies hat die Familie meines Großvaters durchlebt. Meine zwei Urgroßeltern mit den fünf Kindern standen auf der Liste der Ver- triebenen, lediglich weil die Züge voll waren, blieben sie hier. Zu- erst erfuhr ich aus den Erzählungen meines Großvaters über die Vertreibung der Schwaben, danach habe ich angefangen mehre- re Dorfbewohner, die davon betroffen waren, aufzusuchen. Anna Haffner „Mein Vater war Mitglied beim Volksbund, so haben wir damit gerechnet, dass man uns 1945 unseres Hauses verweisen wird. Eines Tages kamen dann die Polizisten, mit der Nachricht, dass wir gehen müssen. Zuvor haben wir einige unserer Möbelstücke in ein anderes Haus gebracht, von dem wir annahmen, dass es von der Vertreibung nicht betroffen wird, aber die dortigen Be- wohner wurden 1947 nach Deutschland gebracht, so ging all unser Vermögen, das wir zu retten versuchten, für immer ver- loren. Ich habe mich beim Schleppen sogar geschlagen. Es kam ein Mann, der den Sparherd mitnehmen wollte, aber ich zog ihn zurück, damit dieser im Haus bleibt. In unser Haus zog eine Neu- siedlerin mit drei Kindern. Sie erlaubte uns, eine Weile zu blei- ben, aber dennoch mussten wir rasch gehen. Zuerst vertrieben sie uns, danach wir sie. Unsere Freunde halfen dabei, sie haben die Flügel von einigen Hühnern gebrochen, dann die Füße von Hasen, danach machte sich die Frau derartige Sorgen um ihr verbliebenes Schwein, dass sie es in das hintere Zimmer ver- frachtete, damit diesem nichts zustößt. Wir mussten fünfmal umziehen. Zuerst zogen wir zum zweiten, dann zum dritten Nachbarn, in die Mitte des Dorfes zu einer Fa- milie, danach zogen wir in den Kindergarten, dessen Fenster mit Papier verdeckt waren. Damals lebten wir in großer Armut. Mein Vater war interniert, meine Mutter ging auf Märkte, damit wir uns von etwas ernähren konnten, mein Bruder in Tarian, ich fast allei- ne im Kindergarten bei den Ráczs. Am Ende nahm uns die Familie meiner Patentante auf, dort wohnten wir, als man 1947 an unserer Tür klopfte, damit wir pa- cken, weil man uns zum Bahnhof bringen wollte. Mein Vater war unten im Bergwerk, er wurde benachrichtigt, dass er sich nach Hause begeben soll, da die Vertreibung begann. Wir haben alles in einem Bündel verstaut, ich habe dabei sogar fünf Röcke an- gezogen, damit deren Gewicht nicht zum Bündel dazugerechnet wird. Als wir unten ankamen, waren die Wagen bereits voll, wir konnten nicht mehr zusteigen. Wir wurden an die Seite gestellt und nach einer gewissen Zeit entlassen. Auf dem Nachhause- weg hat mein Buhler, der später mein Mann wurde, einen Neu- siedlerburschen angehalten. Er hat diesen verjagt und das Pferd mit unserem Bündel bepackt und zu uns nach Hause gebracht. SoNNTAGSBLATT Von dem Polizisten haben wir bereits am Bahnhof wieder unsere Schlüssel erhalten, so konnten wir sofort ins Haus. Besitzlos, aber wir konnten zurückkehren. Meine Eltern hatten Haus und drei Morgen Besitz, aber diese wurden uns ohne ein Wort weggenommen. Man hat diejenigen weggebracht, die noch etwas besaßen. Die Eisenbahnwaggons standen noch einige Tage bei Weinhield/Bánhida, dorthin brachten wir dem Bruder meines Vaters und dessen Familie Honig und dies und jenes. Den Kontakt zu ihnen brach nicht ab, wir haben viel per Brief kor- respondiert. Wir haben in den Umschlag rote Paprika gesteckt, nach einer gewissen Zeit war es erlaubt Pakete zu schicken. Nach 1956 wurde dann alles einfacher.” Bella Fegyveres „Ich wurde in Kirne geboren, meine Eltern haben 1942 oder 1944 ein Haus im Ortsteil Patar gekauft. Mich konnten sie nicht dazu bewegen umzuziehen, deswegen blieb ich in Kirne bei meinen Großeltern und meiner Urgroßmutter. Ich wohnte gerne dort, weil alles in der Nähe war, die Schule und die Kirche. Am Tag der Vertreibung klopfte man bei uns nicht, denn mein Opa war An- hänger der Kleinlandwirtepartei und erhielt von István Dobi eine Befreiung. Allerdings tauchten am Abend zwei Männer auf, die meinen Großvater baten, den Befreiungsschein zu überreichen. Er woll- te es natürlich nicht, deswegen riss man ihm das Blatt aus der Hand, und sie sagten, dass die Papiere ungültig seien und wir packen müssten, weil man uns mitnehmen werde. Wir hatten Be- such aus Pest, er hat uns die Flucht ermöglicht, während mein Großvater und die Seinen an der Tür verhandelten. Der Bekann- te brachte uns zu einem Verwandten. Ich erinnere mich gut, dass ich über das Tor klettern musste, damit ich rein konnte. An die- sem Abend wurden vier Familien auf den Wagen geladen, unter ihnen meine Großeltern, zusammen mit meiner Urgroßmutter und der Familie des Bruders/der Schwester meiner Mutter. Sie alle wurden dem Kirner Zug hinterhergefahren. Meine Mutter brach nach Szob auf, um den Verwandten, die im Zug saßen, warme Sachen zu bringen. Ich zog nach Patar zu meinen Eltern und ging von dort in die Schule. Ich hatte kaum Kleidung, das meiste blieb im Haus meiner Großeltern. Nach der Vertreibung hat das Leben meiner Familie ein Partisa- ne, der 1945 aus dem ehemaligen Oberungarn kam, zur Hölle gemacht. Er versprach meiner Mutter, dass er die Familie Hoffart nicht nur materiell, sondern auch seelisch (im ungarischen Origi- nal: nervlich) kaputtmachen werde. Es kam auch so. Mein Vater kam nach einem Schauprozess für ein Jahr ins Gefängnis, er wurde schlussendlich vom Raaber Volksgericht freigesprochen. Die Anklage lautete, dass er eine Volksbund-Zeitung lese. Wir wurden bei der Verstaatlichung aus unserem Haus in Patar raus- geschmissen und nach Kirne zur Kellerreihe geschickt, um dort eine Wohnstelle zu errichten. Währenddessen versuchten mei- ne Eltern mehrfach nach Deutschland zu fahren, aber erhielten nie eine Genehmigung. Ich konnte 1963 dorthin fahren, aber ein Wiedersehen mit den Großeltern war nicht mehr möglich.” Paula Steger „Morgens mussten wir auch packen, die Eltern durften pro Per- son lediglich zwanzig Kilo mitnehmen. Wir hatten etwas Gold und US-Dollar, die hat meine Mutter in den Rock eingenäht, deshalb musste ich mit soldatischer Disziplin sitzen, damit aus meiner Kleidung nichts runterrutscht. Wir wurden mit einem Laster zum Bahnhof gebracht. Wir Kinder genossen es ja sehr. Wer konnte damals auf einem Laster sitzen?! Danach durften wir sogar Zug fahren, wir dachten, Gott wüsste, wie schön es sein wird. Wir wurden vom Bahnhof weggeschickt, weil wir nicht auf der Liste standen. Mein Großvater hatte eine Befreiung für die ganze (Fortsetzung auf Seite 20) 19