Sonntagsblatt 1/2015 | Page 17

sb15-1:sb14-2.qxd 2015.02.12. 8:44 Oldal 17 Franzstadt (Ferencváros) zu überrennen, was dann am nächsten Tage auch geschah. Mutter und ich hatten die entscheidende Phase der Eroberung unseres Stadtbezirks mit unseren Mitbewohnern, wohl an die 50 Personen, im Keller unseres Hauses verbracht. Verblieben sind diese Erinnerungen bis heute!, und einzelne Szenen erscheinen wie auf einem Bildschirm, wenn ich daran denke. Im Keller war kein Licht. Kinder, aber auch einige Frauen wein- ten. Von oben, von der Straße her hörte man Maschinengewehr - feuer, Schreie, Anweisungen, laute Kommandos und immer wie- der die Salven aus Maschinengewehren. Dann wurde es plötzlich ganz still. Im Schutzraum begann ein Aufatmen. Doch niemand wagte es zunächst nach oben zu gehen, hatte man doch gehört, was die Russen so alles mit der Zivil - bevölkerung machen. Der Rat der Kellerinsassen hatte noch nicht beschlossen, dass wir nach oben gehen sollen, als schwere Schläge gegen die Kel - lertüre pochten, unterbrochen von russischen Lauten. Das Klop - fen wuchs proportional zur Unruhe und Angst im Kellerraum. Endlich gab die Kellertüre nach, und im Lichte des Hofes sah man einige Sowjetsoldaten. Mit ihren MPi’s im Anschlag näherten sie sich vorsichtig dem Kellereingang, riefen einige Kommandos, und dann wagte es der erste Soldat, die Treppe hinabzusteigen. Die ande- ren folgten zögern und sichernd. Als sie unten angekommen waren, kam der Befehl an die Kellerleute, die Hände hochzuhalten. Zunächst wurde nach versteckten Waffen und gegenerischen Soldaten gesucht. Doch schon bald war den Soldaten klar, dass hier wohl für sie keine Gefahr drohte. Also untersucht man die Menschen nach anderen Gegenständen und nahm sie ihnen ein- fach weg. Nachdem diese „Enteignungen” abgeschlossen waren, ergriff ein Rotarmist den Krückstock eines älteren Mannes, ging in die hinterste Ecke des Keller und legte den gebogenen Teil des Stockes um den Hals eines jungen, vielleicht vierzehnjährigen Mädchens. Das Kind fing schrecklich an zu weinen, und auch seine Mutter, die daneben saß, schrie und schluchzte in einem. Der Soldat zerrte das Mädchen zur Mitte des Kellerraumes. Die Mutter hatte sich an das Kleid ihres Kindes geklammert und ver- suchte es zurückzuhalten. Einige ältere Männer begannen verbal gegen diese Aktion zu protestieren, was einen weiteren Rotarmisten dazu bewog, seine MPi auf die Protestanten zu richten. Dies war eine deutliche Geste und die Männer verstummten. Die Mutter des Kindes hatte aber noch nicht aufgeben, die Kleine zu „retten”. In ihrer Verzweiflung bot sie den Soldaten durch Gesten an, dass sie selbst mitgehen wolle. Dieses Anerbieten wurde nicht angenommen. Schließlich schleppten die Männer das Mädchen die Treppe hoch und verschwanden durch die Kellertüre ins Freie. Die Mutter folgte ihnen laut weinend. Über das weitere Schicksal der beiden habe ich nichts mehr erfahren. Auch meine Mutter, die ich viel später über diesen von mir nicht ganz verstandenen Vorfall befragte, konnte mir auch keine Auskunft darüber geben. Meine Mutter, die ja auch Zeuge dieses Vorfalls war, wunderte sich damals, als ich ihr zum ersten Mal darüber berichtete, ob meiner exakten Erinnerung. Großeltern und Mutter waren an diesem Tage in der Umgebung unseres Wohnbezirkes auf der Suche nach meinem verschwunde- nen Vater. Passanten wurden befragt und Bekannte wurden be - auf tragt, nach dem Vermissten zu forschen. Ich war natürlich auch in Begleitung meiner Mutter bei dieser Suchaktion beteiligt. Noch heute erinnere ich mich an einige unauslöschbare Bilder aus die- sen Tagen: So konnte ich sehen, dass am Straßenrand und in den Hauseingängen immer wieder Leichen von Soldaten – Deutsche, Ungarn und Russen – wie mir Mutter erklärte, herumlagen, die bei den Straßenkämpfen gefallen waren. Mutter schaute sich die Toten an in der bangen Hoffnung, einer würde doch hoffentlich nicht ihr Mann sein. Als wir noch erfolgloser Suche wieder ins Haus zurückkehrten und auf die bereits ebenfalls erfolglosen Großeltern trafen, kam eine Hausbewohnerin auf uns zu und erzählte, dass eine Person im Auftrage meines Vaters im Haus gewesen sei und sie über den Aufenthaltsort meines Vaters unterrichtet habe. Sie erzählte auch kurz, dass Vater schwer verwundet sei und im Notlazarett liege. Meine Mutter war jetzt natürlich durch nichts mehr zurückzu- halten. Sie nahm mich an der Hand – ich war noch warm angezo- gen- und wir machten uns mit Großmutter auf den Weg in das besagte Notlazarett in der Üllôi út. Unterwegs zogen wir uns immer wieder in Hauseingänge zu - rück, wenn russische Soldaten in Sicht kamen. Es war schon dun- kel, als wir im Lazarett ankamen. Über eine unbeleuchtete Treppe gelangten wir in einen langen Gewölbekeller, welcher notdürftig mit einigen Kerzen beleuchtet war. Hier unten herrschte ein unglaubliches Chaos. Dutzend von Schwerverwundeten lagen hier auf dem aufgeschütteten Stroh und stöhnten oder schrien vor Schmerzen. Sie waren schon den ganzen Tag nicht versorgt worden, denn die Ärzte und Schwestern sowie das meist freiwillige Pflegepersonal hatten sich aus Furcht vor den Rotarmisten abgesetzt. Endlich fanden wir meinen Vater. Ich kann mich noch genau erinnern, dass er auf seinem schwarzen mit dunkelbraunem Schaf - fell gefüttertem Ledermantel – er trug bei seinem Dienst damals keine Uniform – lag. Der Mantel, auf den er immer so stolz war, war mit Blut getränkt. Vater lag auf der Seite als wir ihn fanden, und die beiden Frauen konnten noch nicht sehen, welche Ver - wundungen er hatte. Als sich Mutter zu ihm beugte und ihn vor- sichtig umdrehte, wurde die schlimme, nicht versorgte Ver letzung im Bereich des Gesichtes erkennbar. Mutter schrie auf und Groß - mutter fing an, herzzerreißend zu weinen. So hatte ich die beiden noch nie erlebt. Auch ich fing leise an zu schluchzen. Vater war bei Bewusstsein und informierte die Frauen mit schwacher Stimme über seine Situation. Ein Arzt, der es gewagt hatte, zurückzukehren, schaute sich die Verwundung an und eröffnete den Frauen, dass Vater unbedingt einen behandelnden Mediziner brauche: Die Infektionsgefahr sei sehr groß und ohne Behandlung sehe er wenig Hoffnung für den Verwundeten. Mutter eröffnete Vater, der sehr schwach reagierte, dass wir ihn auf schnellstem Wege in unsere Wohnung bringen würden. Großmutter war schon weg, um den Transport nach Hause zu organisieren. Meine beiden Großväter und zwei weitere Bekannte brachten meinen Vater in Begleitung meiner Mutter auf einem Bettlaken in unsere Wohnung. Großmutter hatte sich ihrer Beziehungen zu einem in der Nähe wohnenden Zahnarzt, welcher bei ihr Eis kun - de war, erinnert und diesen gebeten, meinen Vater zu versorgen und weiter zu behandeln. Dieser war zunächst nicht bereit, aus seinem Haus zu gehen, denn es wimmelte in der Stadt von herum- ziehenden Sowjet-Soldaten. Die Lage sei ihm zu gefährlich, zumal sich in der Nähe unserer Wohnung die „Zwack-Unicum” Brannt - wein- und Likörfabrik befand! Fortsetzung folgt Sonntagsblatt-Leser wissen mehr! Sag das auch Deinen Bekannten und Freunden! SONNTAGSBLATT Das in jedes ungarndeutsche Haus! 17