Sonntagsblatt 1/2022 | Page 29

ten zehn Jahren . Überall „ Ladenhüter ”, fürchterliche Alt- und „ verwitwete ” Praxen , Praxisvermittler , die dumme Ossis suchten für Praxen und Preise , die wir wahrscheinlich noch heute abbezahlen müssten ! Besonders prekär und immer schwieriger wurde es für uns Suchende - und das muss man hier ungeniert sagen – als die Grenze aufging und viele DDR-Zahnärzte „ im Westen ” auch auf Praxis-Suche waren , wohlwissend in der alten Heimat ihre Arbeitsstelle noch sicher zu haben .
Endlich – kurz vor Weihnachten 1989 – tat sich ein Lichtblick auf : Ich fand auf einer Zahnärztekammer- Beratung eine Praxis in der Oberpfalz zwischen Nürnberg und Regensburg . Eine verwitwete Zahnärztin wollte nach meiner halbjährigen Assistenzzeit die Praxis an uns verkaufen sowie Haus und Wohnung darüber vermieten – genau das , was wir für uns und unsere Kinder dringend suchten . Kurz vor Weihnachten 1989 zogen wir dann frohen Mutes mit Kind und Kegel unter Mithilfe eines ehemaligen DDR-Zahnarztes aus Franken , der ursprünglich bei einem Fluchtversuch verhaftet worden war und mit seiner Frau ( Ärztin ) bewusst unter Kriminellen zweieinhalb Jahre im Zuchthaus Bautzen einsaß , während die zwei Kinder durch Hilfe von BRD-Verwandten schon vorher erfolgreich in die BRD geschleust worden waren . ( Auch ein bezeichnendes DDR-Schicksal , das man heute wie anderes so einfach abtun möchte – von wegen DDR kein Unrechtsstaat , keine Diktatur !)
Trotz Arbeit für einen Hungerlohn – ich bekam 1100 DM monatlich , davon wurden aber 830 DM monatlich gleich für die Wohnungsmiete einbehalten und das bei einer vierköpfigen Familie – war unser Optimismus auf Grund der sich öffnenden Perspektive ungebrochen . Ein örtlicher Kollege ergriff aber nach brutal kapitalistischer Manier die Gelegenheit , die unliebsame Konkurrenz aus dem Weg zu räumen , indem er heimlich und hinter unserem Rücken Haus und Praxis von der Kollegin abkaufte und , wie wir einige Jahre später erfuhren , die Praxis total auflöste und das Haus anderweitig vermietete .
Nun hatte die noch Praxisbesitzerin , für die wir im Endeffekt nur die Köderfunktion für einen guten Hausund Praxisverkauf darstellten , nichts anderes zu tun , als uns mit allen Mitteln rauszuekeln : Meine Assistenzstelle und die Mietwohnung wurden gekündigt – ich kam mir so vor , als ob ich mit meiner Familie nun endgültig in der „ kapitalistischen ” Gosse gelandet wäre !
Aber ist die Not am größten , finden sich doch immer helfende Menschen , wahre Samariter . Wir hatten schon vorher guten Kontakt zum katholischen Pfarrer der dortigen Kleinstadt aufgenommen . Dieser sprach uns in seiner ruhigen Art Trost und Mut zu , zeigte uns eine Wohnungsnotlösung im Pfarrhaus auf und vermittelte uns einen Rechtsanwalt , der sogar unentgeltlich für uns tätig wurde , indem juristisch beide Kündigungen abwies bzw . aufschob . Mit diesem katholischen Pfarrer stehen wir noch heute im persönlichen und telefonischen Kontakt , weil er uns als Priester und Mensch in unserer größten Not mit Tat und Rat beistand und uns neue Perspektiven und Wege aufzeigte – eben ein Seelsorger als Schutzengel uns geschickt .
SoNNTAGSBLATT
Auch mein Kampfgeist , genährt durch diese gemeine Niedertracht und Enttäuschung , war aus der anfänglichen Schockstarre wieder erwacht . Mit Bitten und Betteln verschaffte ich mir für die noch fehlenden zwei Monate der nötigen Assistenzzeit für mich und meine Frau eine Assistenzstelle in der nahen Kreisstadt – mehr eine Hospitationsstelle , aber dafür auch ohne Gehalt . Mit Wochenendfahrten nach Plauen ( DDR ) und dortigen Einkäufen von Konserven und Lebensmitteln aller Art mit unserer restlichen DDR-Mark hielten wir uns „ über Wasser ”.
Der „ Praxistourismus ” lief wieder auf Hochtouren , aber er wurde durch die offenen Grenzen immer schwieriger – siehe oben !
Endlich Licht am Horizont : Ein Kollegenehepaar ging in Nord-Hessen nahe der Grenze zu Thüringen in Rente . Praxis mit Haus und Wohnung ( beides auf Mietverhältnis ) wurden frei – ideal für unsere Bedürfnisse . Nach erfolgreicher Zulassungsprüfung bei der Zahnärztekammer in Frankfurt konnten wir endlich Ende Juni 1990 zu einem sehr fairen Kaufpreis - aber voll finanziert von der Bank zu den damaligen zweistelligen Zinskonditionen - unsere Praxis und drei Monate später unsere Wohnung übernehmen . Ein wahrhaft „ erlösendes Gefühl “ – zu dem Kollegenehepaar pflegten wir bis zu deren Tod ( beide wurden über 90 Jahre ) einen „ dankbaren ” Besucherkontakt .
Nun muss man wissen , Hochsommer- und Ferienzeit ist schon immer und besonders auf dem Lande eine „ Saure-Gurken-Zeit ” gewesen , dazu neue Behandler in der Praxis , die noch allen „ Tipps ” von professionellen Praxismaklern zum Trotz bewusst mit ihrem Wartburg rumfuhren . - Das war nicht gerade einladend für die reserviert veranlagten Nordhessen . Was aber positiv für uns war : Es lief eine euphorische Wiedervereinigungswelle durch Deutschland und gerade die westdeutsche Bevölkerung im ehemaligen Zonenrandgebiet mit persönlichen Erfahrungen mit Grenzsoldaten , Flüchtlingen , Schießbefehl und mit Verwandtschaft nahe der Grenze in Thüringen hatte ein auffallend realistisches Bild von der DDR – viel realistischer als so mancher Bayer oder Oberpfälzer . Obendrein sprach man ein hannoveranisches Hochdeutsch , angenehm verständlich für beide Seiten .
Die Praxis lief wohl sommerlich an ( s . o .), die Neuen mussten erst beäugt werden , aber mit Verständnis , offenem Entgegenkommen und nicht zuletzt mit guten Arbeitsergebnissen wuchsen Zutrauen und Patientenzahl . Da ja Mundpropaganda auf dem Lande jeglicher Reklame überlegen ist , konnte ich so manchem Neupatienten direkt auf den Kopf zusagen , dass man ihn wohl auf der letzten großen Familienfeier endgültig überzeugt hat . Schon im Oktober / November 1990 konnte man sagen , die Praxis „ brummt ” und die übernommenen Helferinnen staunten , was uns erst recht motivierte – auch wegen der Kreditschulden im Nacken . Es gab für uns keinen Urlaub , wenigstens Sonntagnachmittag sollte „ Familientag ” sein – das gelang einmal im Monat ! Geflügelte Worte unserer Kinder untereinander : „ Wo ist der Papa ?” „ In der Praxis , im Büro oder im Labor !” So war meine Ehefrau ganztags als Kollegin und Mutter intensiv gefordert , was nur durch eine gute Organisation in der Praxis und im Privaten zu schaffen war .
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