Sonntagsblatt 1/2022 | Page 28

Das hat uns deshalb vieles leichter gemacht als so manchen DDR-Bürgern , die sich durch die folgende Wiedervereinigung „ okkupiert ” vorkamen oder z . T . sich leider immer noch so vorkommen .
Aber zurück zu Ungarn , zu seinen damaligen freiheitlich gesinnten , mutigen Politikern : Diesen gebührt der ewige Dank der vielen damals flüchtenden DDR-Bürger . Während die einen ungarischen Politiker uns vor Jahrzehnten vertrieben , haben den Deutschen die neuen - noch dem kommunistischen Ostblock verpflichteten - Realpolitiker den Weg in die Freiheit ermöglicht .
Ach , ist die Autobahn durch Österreich in die BRD so lang , vor allem für unser überladenes Auto ! Aber mit unserem demonstrativ überklebten DDR-Schild ( das erste D und das R wurden besser gesagt überklebt ) lösten wir Begrüßungsgesten aus : von hupenden Lkwund Autofahrern , winkenden Busreisenden , Tankstellenkostenübernahme durch wildfremde Reisende , Geschenke von reisenden Vertretern u . v . m . - einfach eine Euphorie und Begeisterung ohne gleichen .
Wieder erst am Abend in Grafenau bei Passau in der dortigen Bundeswehr-Kaserne angekommen , Formular nach Formular ausfüllen , ausgerechnet war nun der überladene Wartburg auch noch defekt , so fuhren wir mit 70 km / h nach Schaippach bei Gemünden am Main , etwa 40 km von Würzburg entfernt , in ein für DDR-Flüchtlinge eingerichtetes Schullandheim . Ein kleines , aber separates Zimmer , Kost und Logis waren aber gesichert ( Übrigens , Übernachtungs- und Verpflegungskosten mussten wir für die ganze Zeit nach unserer Eingliederung komplett nachzahlen – wir kamen ja nur von Deutschland nach Deutschland !).
Versuche verschiedener BRD-Autowerkstätten unser n stotternden Wartburg durch Einbau mancher VW-Ersatzteile ( Kosten !) zu reparieren , schlugen fehl . Schließlich reichte es mir ! Kurzerhand fuhr ich allein nachts um zwei Uhr mit meinem kaputten Auto - kriechend und hoffend - mit 60-70 km / h und bei Schneeregen von unserem Landschulheim bei Gemünden zu meinem Cousin bei Budapest .
Welch ‘ eine Energie und Kraft dieser Aufbruch in die neue Zeit in mir hervorrief , kann man allein daran erkennen , dass ich , in Höhe von Wien vormittags angekommen , von der Autobahn runterfuhr , um so ganz nebenbei die österreichische Hauptstadt , die ich natürlich vorher noch nie gesehen hatte , einfach im Centrum parkend , stundenlang zu erkunden , auch Schloss Schönbrunn , als ich überraschend daran vorbeifuhr .
Hier sei noch unbedingt erwähnt , dass wir durch die Aus- und Zwischenlagerung unserer wichtigsten Gegenstände , Artikel aller Art , Kleidungsstücke für Groß und Klein , Bücher , Fotos und u . ä . m . an drei verschiedenen Orten ( siehe oben ), neben dem schon im Lager in der BRD in Koffern , Taschen und Kartons Befindlichen langsam jeglichen Überblick verloren hatten . So fanden wir gerahmte historische Zahnarztbilder , die wir in unserem neuen Wartezimmer aufhängen wollten , erst nach zwei Jahren zufällig wieder , während ich Kleidungsstücke ( u . a . Wintermantel , Winterstiefel ) jahrelang suchte , bis mein Vater mir eingestand , sie nachts heimlich auf die Müllhalde gekippt zu haben – der alte Mann , von Krieg und Diktaturen so verängstigt , dass er nun gar glaubte , als unsere „ Fluchthelfer ” apostrophiert und zur Verantwortung gezogen zu werden .
Wieder in der BRD zurück ging die Suche nach einer Arbeitsstelle für zwei Zahnärzte erst richtig los , auch mit Hilfe meines Studienfreundes , der schon unter vielen Schikanen mit seiner Frau ( auch Zahnärztin ) 1986 offiziell ausgereist war – eine echt stressige Phase . Während andere Heimbewohner leicht Arbeit und Wohnung oft in unmittelbarer fränkischer Umgebung fanden , war es äußerst schwierig , eine Praxis für zwei Zahnärzte mit Kinderunterbringung in unmittelbarer Nähe zu finden . Außerdem mussten wir laut Kassen- Zahnärztebestimmung eine halbjährige Assistentenzeit nachweisen , um eine zahnärztliche Zulassung zu erhalten . Wären wir aus irgendeinem EU-Land eingereist , wäre das nicht nötig gewesen , aber wir kamen eben nur von Deutschland nach Deutschland – immerhin war ich damals schon 27 (!) Jahre Zahnarzt ! Obendrein Anerkennungsproblematik ! Wir konnten doch unsere originalen Approbations- , Promotionsund Facharzturkunden nicht direkt auf die Flucht mitnehmen – das hätte uns ja gleich verraten . Also fotografierten wir sie und am Tag unserer Flucht schickten wir die Negative an verschiedene Verwandtschaftsadressen nach Ungarn , damit wir in der BRD nun beim Fotografen Abzüge machen lassen und freudig auf Ämtern und Zahnärztekammern präsentieren konnten . Und nun sieht man , in welcher Welt so mancher BRD-Beamter noch lebte : „ Das gilt hier nur , wenn es amtlich beglaubigt wäre !” Das war zu viel ! Laut und ärgerlich entfuhr es mir : „ Wissen Sie , wo ich dann jetzt wäre , wenn ich das gemacht hätte ? Nicht hier , sondern im Zuchthaus Bautzen !” Über Bürgschaften , eidesstattliche Erklärungen und viel Rennereien gelang es schließlich doch , die Paragraphen-Bestimmungen zu erfüllen , aber die „ edlen ( DM- ) Märker ” vom Begrüßungsgeld waren schlussendlich wieder fort - von den Beamtenapparat-Kosten „ aufgesaugt ”.
Eine irre Idee , aber charakterisierend für diesen euphorischen Aufbruch jedes Einzelnen in die neue Zeit !
Als ich dann spätnachmittags auf den Hof meines Cousins fuhr , stellte er als 2-Takt-Kfz-Profi allein am Motorklang fest , was meinem kranken Wartburg fehlte . Auto schnell repariert , wieder vollgepackt mit unseren dort zwischengelagerten Wintersachen ging es einen Tag später mit doppelter Geschwindigkeit zurück nach Deutschland . ( Auf meinem Schreibtisch steht noch heute das ausgebaute defekte Teil , bestens geeignet als Kuli- und Bleistiftbox , zur ewigen Erinnerung .).
Daneben waren wir mit unserem treuen Auto von Nordhessen bis ins tiefe Bayern ( Allgäu ) unterwegs auf der Suche nach einer Arbeitsstelle . Unser dort oft unbekannter Wartburg war die Attraktion auf allen Parkplätzen – nicht nur dadurch erkannten wir immer mehr , je weiter man ins Land hineinkam , wie weit weg und unbekannt einem Durchschnitts-BRD-Bürger die DDR und ihr System waren .
„ Praxistourismus ” habe ich diese Touren später genannt , weil wir damals viel mehr in der BRD herumkamen als wegen Arbeitsüberlastung in den nächs-
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