Sonntagsblatt 1/2022 | Page 19

III .
Als ich Mitte der achtziger Jahre an das hiesige Gymnasium kam , war die chauvinistische Bewegung bereits in vollem Gange . Das Deutsche wurde in Schule und Amt total vernachlässigt . Deutsch und Turnen oder Singen galten als jene Gegenstände ( Fächer , Red .), in welchen eine schlechte Note zu bekommen keine Schande war .
Es war damals die Zeit des politischen Aufschwunges und der nationalen Begeisterung . Unsere Väter waren felsenfest überzeugt von der Richtigkeit der liberalen Ideen , vom „ ewigen “ Gesetze des Fortschrittes und sahen ihre „ Ideale “ in der ungarischen Staatsidee verkörpert . Der für polyglotte Staaten grundfalsche Satz „ Nyelvében él a nemzet “ („ In ihrer Sprache lebt die Nation !“) wurde nicht nur ein politisches , sondern auch ein Axiom des Patriotismus . In hunderttausend Varianten wurde uns der ( direkt unmoralische ) Grundsatz gepredigt , dass derjenige kein guter Patriot sei , der nicht die ungarische Sprache bevorzugt , auch wenn das nur mit der Zurücksetzung der Muttersprache geschehen kann . Außer der unzweifelhaft großen Werbekraft der ungarischen Staatsidee und der madjarischen Psyche war es hauptsächlich dieser Grundsatz , der die deutsche Intelligenz geradezu in Fesseln schlug . Deutsch sein heißt treu sein . Wenn irgendwo , so hat sich in Westungarn dieses Wort bewahrheitet . Trotzdem es hier kaum eine bodenständige Familie gibt , die nicht mit Wien und Österreich nahe verwandtschaftliche und intime geschäftliche Beziehungen hat , so ist es uns nie eingefallen , dort völkischen oder politischen Anschluss zu suchen , obwohl wir seitens des ungarischen Staates wahrlich nicht verwöhnt und von den führenden chauvinistischen Elementen trotz aller unser Hingabe nur als Patrioten zweiter Klasse behandelt wurden . Und damals war Wien wirklich noch eine politische oder wenigstens eine kulturelle Großmacht . Wohl hatten viele Zweifel und Bedenken , ob die rücksichtslose Beseitigung des deutschen Unterrichtes der richtige Weg zum Aufbau des modernen Ungarn sei , wohl sahen viele mit tiefstem Schmerze , wie Schritt für Schritt in der eigenen Familie die seelische und kulturelle Entfremdung größer wurde , aber dagegen Stellung zu nehmen getraute sich keiner . Das Schlagwort von der patriotischen Pflicht war entscheidend . Da wollte keiner zurückstehen .
Wir sind heute wohl schon in der Lage , uns über diese Zeit ein objektiveres Urteil zu bilden . Und da muss man gestehen , dass die Situation unserer Eltern keine so leichte gewesen ist . Denn wir dürfen nicht vergessen , dass die nationale Begeisterung nicht nur die
Alten selbst , sondern noch in viel größerem Maße die Jugend ergriffen hatte . Der deutsche Familienvater also , der es unternommen hätte , sich der chauvinistischen Bewegung entgegenzustellen , wäre oft in der eigenen Familie heftigem Widerstande begegnet . Ferner darf bei der großen Masse des städtischen Bürgertums das Moment der Sorge um die wirtschaftliche Zukunft der Kinder nicht unterschätzt werden . In der allgemeinen Bewegung musste es der Familienvater praktisch , ja notwendig finden , seine Kinder in der Staatssprache erziehen zu lassen . Endlich sehen wir das Ergebnis der Bewegung als Ganzes , während unsere Vorfahren immer nur einzelne Schritte beobachten konnten : zuerst die Mittelschule , dann die Volksschule , dann das Theater , die Gerichte usw . usw . – Sie waren also tatsächlich nicht in der Lage , sich vom Anfange ein Urteil über die ganze Tragweite ihrer Entschließungen zu bilden .
Aber nicht nur auf politischem , sondern vielleicht noch einschneidender waren die Folgen der Madjarisierung auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiete .
Derjenige , der ein Auge dafür hat , muss gestehen , dass sich die Struktur und das Wesen unserer Stadt vollständig verändert hat . Damals gab es noch ein deutsches Bürgertum , heute gibt es nur noch Patrioten . Zu Ignaz Flandorffers Zeiten spielten die führende Rolle Gewerbetreibende , Fabrikanten , Landwirte – mit einem Worte : die schaffenden Berufe . Heute sind da fast ausschließlich Advokaten und Beamte . Damals schuf die Bürgerschaft ohne Inanspruchnahme des Staates - ja sogar des Stadtsäckels - Spitäler , Versorgungshäuser , mustergültige Schulen , Theater , öffentliche Anlagen , Gasbeleuchtung usw . – heute erwartet jeder alles allein vom Staate oder der Kommune . Dafür wird aber aus jedem Ding - sei es noch so rein praktischer oder technischer Natur wie z . B . Kanalisation oder Markthalle - ein Politikum gemacht und damit können natürlich nur Juristen umgehen . Damals galt es als selbstverständlich , dass der Sohn - auch wenn er die Mittelschule absolviert hatte - das Geschäft oder die Fabrik des Vaters übernimmt . Heute gilt es selbstverständlich , dass der junge Mann mit „ höherer “ Bildung nur Advokat , Beamter , Landwirt , Ingenieur und eventuell noch Offizier werden muss , aber beileibe nicht Kaufmann oder Fabrikant oder gar Gewerbetreibender ! Den Nutzen hatten von dieser Umgestaltung nur die Juden , gegen die das Bürgertum , solange es deutsch war , eine geradezu beispiellose Widerstandskraft zeigte .
Ende Teil 1 , Fortsetzung folgt
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