nicht nur den Anrufbeantworter, wenn
man anrief, sondern real vorhandene
Menschen. Das Virus brachte eine neue
Kultur des Langtelefonieren ohne
Second Screen hervor. Auch die
»messages« selbst bekamen plötzlich
eine neue Bedeutung. Man
kommunizierte wieder wirklich. Man ließ
niemanden mehr zappeln. Man hielt
niemanden mehr hin. So entstand eine
neue Kultur der Erreichbarkeit. Der
Verbindlichkeit.
Menschen, die vor lauter Hektik nie zur
Ruhe kamen, auch junge Menschen,
machten plötzlich ausgiebige
Spaziergänge (ein Wort, das vorher
eher ein Fremdwort war). Bücher lesen
wurde plötzlich zum Kult.
Reality Shows wirkten plötzlich
grottenpeinlich. Der ganze Trivial-Trash,
der unendliche Seelenmüll, der durch
alle Kanäle strömte. Nein, er
verschwand nicht völlig. Aber er verlor
rasend an Wert.
Kann sich jemand noch an den
Political-Correctness-Streit erinnern?
Die unendlich vielen Kulturkriege um …
ja um was ging da eigentlich?
Krisen wirken vor allem dadurch, dass
sie alte Phänomene auflösen, über-
flüssig machen…
Zynismus, diese lässige Art, sich die
Welt durch Abwertung vom Leibe zu
halten, war plötzlich reichlich out.
Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in
den Medien hielt sich, nach einem
kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.
Nebenbei erreichte auch die unendliche
Flut grausamster Krimi-Serien ihren
Tipping Point.
Wir werden uns wundern, dass
schließlich doch schon im Sommer
Medikamente gefunden wurden, die die
Überlebensrate erhöhten. Dadurch
wurden die Todesraten gesenkt und
Corona wurde zu einem Virus, mit dem
wir eben umgehen müssen – ähnlich
wie die Grippe und die vielen anderen
Krankheiten. Medizinischer Fortschritt
half. Aber wir haben auch erfahren:
Nicht so sehr die Technik, sondern die
Veränderung sozialer Verhaltensformen
war das Entscheidende. Dass
Menschen trotz radikaler
Einschränkungen solidarisch und
konstruktiv bleiben konnten, gab den
Ausschlag. Die human-soziale
Intelligenz hat geholfen. Die
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vielgepriesene Künstliche Intelligenz,
die ja bekanntlich alles lösen kann, hat
dagegen in Sachen Corona nur
begrenzt gewirkt.
Damit hat sich das Verhältnis zwischen
Technologie und Kultur verschoben.
Vor der Krise schien Technologie das
Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein
Mensch – oder nur noch wenige
Hartgesottene – glauben heute noch an
die große digitale Erlösung. Der große
Technik-Hype ist vorbei. Wir richten
unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr
auf die humanen Fragen: Was ist der
Mensch? Was sind wir füreinander?
Wir staunen rückwärts, wieviel Humor
und Mitmenschlichkeit in den Tagen
des Virus tatsächlich entstanden ist.
Wir werden uns wundern, wie weit die
Ökonomie schrumpfen konnte, ohne
dass so etwas wie »Zusammenbruch«
tatsächlich passierte, der vorher bei
jeder noch so kleinen Steuererhöhung
und jedem staatlichen Eingriff
beschworen wurde. Obwohl es einen
»schwarzen April« gab, einen tiefen
Konjunktureinbruch und einen
Börseneinbruch von 50 Prozent,
obwohl viele Unternehmen
pleitegingen, schrumpften oder in
etwas völlig anderes mutierten, kam es
nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft
ein atmendes Wesen, das auch dösen
oder schlafen und sogar träumen kann.
Heute im Herbst, gibt es wieder eine
Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-
in-Time-Produktion, mit riesigen
verzweigten Wertschöpfungsketten, bei
denen Millionen Einzelteile über den
Planeten gekarrt werden, hat sich
überlebt. Sie wird gerade demontiert
und neu konfiguriert. Überall in den
Produktionen und Service-
Einrichtungen wachsen wieder
Zwischenlager, Depots, Reserven.
Ortsnahe Produktionen boomen,
Netzwerke werden lokalisiert, das
Handwerk erlebt eine Renaissance.
Das Global-System driftet in Richtung
GloKALisierung: Lokalisierung des
Globalen.
Wir werden uns wundern, dass sogar
die Vermögensverluste durch den
Börseneinbruch nicht so schmerzen,
wie es sich am Anfang anfühlte. In der
neuen Welt spielt Vermögen plötzlich
nicht mehr die entscheidende Rolle.
Wichtiger sind gute Nachbarn und ein
blühender Gemüsegarten.
Könnte es sein, dass das Virus unser
Leben in eine Richtung geändert hat, in
die es sich sowieso verändern wollte?
RE-Gnose: Gegenwartsbewältigung
durch Zukunfts-Sprung
Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-
Szenarios« so irritierend anders als eine
klassische Prognose? Das hängt mit
den spezifischen Eigenschaften
unseres Zukunfts-Sinns zusammen.
Wenn wir »in die Zukunft« schauen,
sehen wir ja meistens nur die Gefahren
und Probleme »auf uns zukommen«,
die sich zu unüberwindbaren Barrieren
türmen. Wie eine Lokomotive aus dem
Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-
Barriere trennt uns von der Zukunft.
Deshalb sind Horror-Zukünfte immer
am Einfachsten darzustellen.
Re-Gnosen bilden hingegen eine
Erkenntnis-Schleife, in der wir uns
selbst, unseren inneren Wandel, in die
Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir
setzen uns innerlich mit der Zukunft in
Verbindung, und dadurch entsteht eine
Brücke zwischen Heute und Morgen.
Es entsteht ein »Future Mind« –
Zukunfts-Bewusstheit.
Wenn man das richtig macht, entsteht
so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir
sind in der Lage, nicht nur die äußeren
»Events«, sondern auch die inneren
Adaptionen, mit denen wir auf eine
veränderte Welt reagieren, zu
antizipieren.
Das fühlt sich schon ganz anders an als
eine Prognose, die in ihrem
apodiktischen Charakter immer etwas
Totes, Steriles hat. Wir verlassen die
Angststarre und geraten wieder in die
Lebendigkeit, die zu jeder wahren
Zukunft gehört.
Wir alle kennen das Gefühl der
geglückten Angstüberwindung. Wenn
wir für eine Behandlung zum Zahnarzt
gehen, sind wir schon lange vorher
besorgt. Wir verlieren auf dem
Zahnarztstuhl die Kontrolle und das
schmerzt, bevor es überhaupt wehtut.
In der Antizipation dieses Gefühls
steigern wir uns in Ängste hinein, die
uns völlig überwältigen können. Wenn
wir dann allerdings die Prozedur
überstanden haben, kommt es zum
Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder
jung und frisch und wir sind plötzlich