Leopoldina aktuell 4_2022 | Page 9

4 / 2022 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 9
ETHISCHE ASPEKTE
Hans Schöler ML
Leiter einer Emeritus-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster , wo er von 2004 bis 2021 Direktor war . Er befasst sich mit der Reprogrammierung von Stammzellen und forscht an Hirnorganoiden . Seit 2004 ist er Mitglied der Leopoldina .
Foto : J . Müller-Keuker | MPI Münster
fliege Drosophila beispielsweise besteht lediglich aus etwa 100.000 Neuronen . Dennoch unterstützt es eine Reihe komplexer Verhaltensweisen , darunter Navigation und Lernen .
Ein Fazit der Stellungnahme ist daher : Trotz einiger Einschränkungen ermöglichen Hirnorganoide neue Einblicke in die frühe Gehirnentwicklung und die Entstehung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen . Zudem lassen sich Auswirkungen von Medikamenten , Toxinen , Keimen oder Viren auf menschliche Gehirnzellen und die Gehirnentwicklung untersuchen . Ein Beispiel ist der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer Infektion mit dem Zika- Virus und der Entwicklung von Mikrozephalie mithilfe von Hirnorganoiden .
Da ein Hirnorganoid die individuelle genetische Information der Person enthält , von der die Gewebezellen stammen , verspricht die Forschung mit Hirnorganoiden auch patientenspezifische Erkenntnisse , etwa über die individuelle Wirkungsweise bestimmter Medikamente .
Ein weiteres Fazit : Die Forschung an und mit Hirnorganoiden in vitro wirft in absehbarer Zeit keine regelungsbedürftigen ethischen und rechtlichen Fragen
Jürgen Knoblich
Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Molekulare Biotechnologie ( IMBA ) in Wien / Österreich und Professor für Synthetische Biologie an der Medizinischen Universität Wien . Seine Arbeitsgruppe war im Jahr 2013 die erste , die ein Hirnorganoid in der Petrischale gezüchtet hat .
auf . Auch die Bedingungen , unter denen menschliche Zellen zur Erzeugung von Hirnorganoiden verwendet werden können , sind ausreichend geregelt . Dies gilt auch für die Transplantation von Hirnorganoiden .
Sollten die derzeitigen Grenzen des Entwicklungspotenzials von Hirnorganoiden aufgrund der Dynamik im Forschungsfeld in Zukunft überwunden werden , wäre zu prüfen , ob die etablierten Verfahren der wissenschaftsinternen Selbstregulierung und der Kontrolle durch Ethikkommissionen erweitert werden müssen , gegebenenfalls durch eine Expertenkommission auf Bundesebene nach dem Vorbild der Zentralen Ethikkommission für Stammzellenforschung . Es ist auch weiterhin wichtig , ethisch , rechtlich oder gesellschaftlich relevante Entwicklungen in diesem Forschungsfeld frühzeitig zu bewerten , um rechtzeitig darauf reagieren zu können .
* Leopoldina-Mitglied Hans Schöler und Jürgen Knoblich sind Sprecher der Leopoldina-Arbeitsgruppe „ Hirnorganoide “.
Stellungnahme Hirnorganoide
Foto : Sandra Schartel | IMBA
Bettina
Schöne- Seifert ML , Mitglied der Arbeitsgruppe ganoide “ Professorin
„ Hirnor- und für Medizinethik , über die ethische Bewertung der Forschung an Hirnorganoiden . Was macht Hirnorganoide besonders ? Bettina Schöne-Seifert : Diese Gebilde in der Petrischale zu sehen , wirft Fragen auf . Schließlich machen Nervenzellen in „ echten “ Gehirnen das biologische Substrat unseres Geistes aus . Eine wichtige Frage ist , ob Hirnorganoide irgendein Bewusstsein entwickeln und also etwa Schmerzen empfinden können . Wie lautet die Antwort ? Schöne-Seifert : International sind sich die Experten darin einig , dass Hirnorganoide , wie sie jetzt und in absehbarer Zukunft hergestellt werden können , meilenweit davon entfernt sind , auch nur rudimentäres Bewusstsein irgendeiner Art zu entwickeln . Dafür sind ihre Gewebestrukturen nicht groß , komplex und differenziert genug . Damit sind Hirnorganoiden bei jetzigem Stand auch keine Schutzansprüche („ moralischer Status “) zuzusprechen . Andererseits wäre es aus unserer Sicht unethisch , diese Forschung deswegen zu behindern oder zu verbieten , weil man Sorgen vor möglichen späteren Entwicklungen und dann erforderlichen Grenzziehungen hat . Was wäre ein Anlass für eine Neubewertung ?
Foto : Hannes von der Fecht | Leopoldina
Schöne-Seifert : Es ist wichtig , die Fortschritte dieses Forschungsgebiets im Blick zu behalten . Sollten Hirnorganoide in der Zukunft deutlich komplexer werden können , wäre das ein solcher Anlass . Auch die noch in ihren Anfängen steckende Transplantation von Hirnorganoiden in andere Tiergehirne wird vielleicht eines Tages neue ethische Überlegungen und Entscheidungen erforderlich machen .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE ANNE BRÜNING