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4 / 2022 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 7

„ Wir sind noch nicht am Wendepunkt “

Weizsäcker-Preisträgerin Antje Boetius über ihre Forschung und die Kommunikation darüber
Alle zwei Jahre verleihen der Stifterverband und die Leopoldina den mit 50.000 Euro dotierten Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis . Er würdigt Forschende , die einen Beitrag zur wissenschaftlichen Bearbeitung gesellschaftlich wichtiger Herausforderungen geleistet haben . Diesjährige Preisträgerin ist die Meeresbiologin Antje Boetius ML . Im Interview spricht sie über ihre Faszination für das Fach und warum sie sich in der Politikberatung und Wissenschaftskommunikation engagiert .
Der Weizsäcker-Preis würdigt sowohl Ihre wissenschaftliche Arbeit als auch Ihr gesellschaftliches Engagement in der Wissenschaftskommunikation . Geht beides für Sie Hand in Hand ? Antje Boetius : In meiner Forschung zu den unbekannten Regionen der Erde wie der Tiefsee geht es um Entdeckung und grundlegende Erkenntnis zu den Energiequellen des Lebens und seiner Verteilung und Funktion . Da ist uns die Erde in Teilen immer noch wie ein fremder Planet . Auf der anderen Seite sehen wir überall Spuren menschlichen Handelns , das die Lebensräume verändert . Die Verbindung entsteht also durch die Kommunikationsaufgabe : Das , was wir entdecken , muss schnell bekannt werden , damit wir wissen , was wir tun und lassen sollten , um uns und das Netzwerk des Lebens auf der Erde zu schützen . So ist Aufgabe meiner Kommunikation , ein Bild des Unbekannten zu schaffen , ein
Die Meeresbiologin Antje Boetius ist Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts , Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung , in Bremerhaven und seit 2009 Mitglied der Leopoldina .
Foto : Esther Horvath | Alfred-Wegener-Institut
Verständnis dafür , was wir zum Beispiel mit dem Eisfisch oder der Tiefseemikrobe zu tun haben . Schaut man auf die lange Liste dessen , was sich seit unserer Kindheit durch Klimawandel und Ressourcenübernutzung verändert hat , dann tragen die Meere und Polarregionen jetzt schon große Schäden .
Sie engagieren sich auch in der Politikberatung . Fällt das auf fruchtbaren Boden ? Boetius : In den veröffentlichten Papieren zeigt sich , dass sich die Sprache der Politik schon deutlich verändert hat : Sie erkennt wissenschaftliches Wissen an ,
VERLEIHUNG WEIZSÄCKER-PREIS 2022 UND SONDERPREIS 2021
Am 12 . Dezember wird anlässlich der Weihnachtsvorlesung der Leopoldina in Halle ( Saale ) der Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis 2022 verliehen . Darüber hinaus wird die Verleihung des Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Sonderpreises 2021 nachgeholt . Den Sonderpreis erhält der Hämatologe , Onkologe und Immunologe Christoph Huber . Sein Engagement auf dem Gebiet der Krebsimmuntherapie bildete eine Grundlage für die Entwicklung von mRNA- Impfstoffen . Die Laudatio hält die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard ML . Die Weizsäcker-Preisträgerin 2022 , die Meeresbiologin Antje Boetius ML , wird die Weihnachtsvorlesung zum Thema „ Leben im Ozean “ halten .
■ RED Verleihung Weizsäcker-Preise und Weihnachtsvorlesung und sie ist ambitionierter geworden in Bezug auf Ziele . Aber leider bleiben die Wirkungen noch weitgehend aus , so steigen CO₂- und Methan-Emissionen weiter , es wird mehr Wald denn je weltweit vernichtet . Wir merken das Umsteuern noch nicht , auch wenn es einige hoffnungsvolle Signale gibt , wie die Verlangsamung des Verbrauchs von Kohle weltweit . Wir haben das richtige Wissen , wir kennen die Stellschrauben , wir können darüber sprechen , aber wir sind noch nicht am Wendepunkt .
Wie gehen Sie damit um ? Boetius : Diese Langsamkeit beim Umsteuern macht mir am meisten Sorgen . Aus der Sicht der Wissenschaft ist es ein Wettlauf mit der Zeit bis zum Überschreiten der Klimaziele . Man weiß zudem aus der Forschung zu gesellschaftlichem Vertrauen und zur Entwicklung demokratischer Prozesse , dass es für Menschen schwierig ist , wenn politische Ziele immer höhergeschraubt , aber nicht erreicht werden . Es ist für die Hoffnung so wichtig , immer wieder ein Stück voranzukommen und darüber zu sprechen . Das vermisse ich gerade sehr im politischen Raum .
Wie ist Ihr persönlicher Blick auf das Meer und die polaren Eisregionen , über die Sie forschen ? Boetius : Ich halte es da mit Alexander von Humboldt , der von seinem unbedingten Gefühl für die Natur sprach , als Voraussetzung für Erkenntnis , gleichzeitig aber akribisch und unermüdlich seine naturwissenschaftlichen Messungen machte . Es ist beides möglich : Einerseits das Thermometer ins Eis zu halten und die Daten weltweit zu integrieren , andererseits aus dem Erlebnis der fremden Landschaft heraus eine empathische Sprache zu finden . Expeditionen sind für diese Kombination besonders hilfreich .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE ADELHEID MÜLLER-LISSNER