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3 / 2021 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 9

Zur Situation von Kindern und Jugendlichen in der Coronavirus-Pandemie

Psychologin Jutta Mata und Leopoldina-Mitglied Ralph Hertwig zur 8 . Ad-hoc-Stellungnahme
COVID-19 hat unser aller Leben verändert . Aber vielleicht ist keine Altersgruppe von der Pandemie und den ergriffenen Schutzmaßnahmen stärker betroffen als Kinder und Jugendliche , zumindest im Hinblick auf ihre Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten . Die 8 . Ad-hoc Stellungnahme der Leopoldina zur Coronavirus-Pandemie beschäftigt sich daher mit deren psychosozialer und edukativer Situation .
VON RALPH HERTWIG ML * UND JUTTA MATA *

Die Arbeitsgruppe von 26 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen sichtete die kontinuierlich anwachsende und qualitativ unterschiedliche Evidenzlage , um daraus empirisch informierte Handlungsempfehlungen abzuleiten . Studien in der dynamischen Pandemie sind notwendigerweise Momentaufnahmen mit begrenzter Aussagekraft . In diesem Bewusstsein wurden vier zentrale Schlussfolgerungen formuliert .

Erstens gibt es keinen Anlass , pauschal negativ eine „ Generation Corona “ zu postulieren – eine solche Beschreibung würde der Plastizität des Gehirns und der Resilienz des Organismus im Sinne einer Reversibilität möglicher negativer Folgen nicht gerecht werden .
Zweitens gibt es bereits jetzt eine Reihe von empirischen Studien , die deutliche Hinweise auf Belastungen und Defizite geben . Zum Beispiel zeigt eine Analyse in fünf Ländern – darunter Deutschland – mit mehr als 2,5 Millionen Schülerinnen und Schülern , dass diese insgesamt etwa 23 bis 35 Prozent Lernzeitverluste durch Schulschließungen im ersten Lockdown erlebt haben . Der Verlust ist bei den Jüngeren besonders groß , sie verloren geschätzt rund ein Viertel eines Schuljahres .
Drittens können einige Gruppen mit den Herausforderungen besser umgehen
Jutta Mata
Professorin für Gesundheitspsychologie an der Universität Mannheim und assoziierte Wissenschaft lerin im Fach bereich Adaptive Rationalität am Max-Planck- Institut für Bildungs forschung Berlin . Sie befasst sich mit psychologischen und verhaltens orientierten Prozessen in Gesundheit , Krankheit und Gesundheitsversorgung .
Foto : Leonie Kopetzki
als andere . Dabei wirkt die Pandemie als Verstärker bereits bestehender Ungleichheit . Für Kinder und Jugendliche , die bereits zuvor mit Armut , häuslicher Gewalt oder schwierigen Bildungssituationen konfrontiert waren , haben sich Belastungen und Nachteile verschärft . Die Symptome der „ Krise vor der Krise “ lassen sich beziffern , zwei Zahlen stehen stellvertretend für andere : 2019 hatten fast 200.000 Kinder am Ende der 4 . Klasse so niedrige mathematisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen , dass sie nach dem Übertritt in die Sekundarstufe I vermutlich nicht anschlussfähig lernen können . Von der Weltgesundheitsorganisation WHO wird mindestens eine Stunde Bewegung mit moderater Intensität am Tag empfohlen . Vor der Pandemie erfüllten das in Deutschland nur 26 Prozent der Kinder und Jugendlichen . Kitaund Schulschließungen haben diese und
Ralph Hertwig ML
Direktor des Forschungsbereichs Adaptive Rationalität am Max-Planck- Institut für Bildungsforschung Berlin . Er forscht zur Entscheidungsfindung von Menschen , insbesondere zur Analyse begrenzt rationaler Strategien .
Foto : Arne Sattler
andere Krisensymptome verschärft .
Viertens formuliert die Stellungnahme 15 Handlungsempfehlungen , die sowohl die durch die Pandemie entstandenen Belastungen adressieren als auch die präpandemischen Ungleichheiten bei Bildungs- und Entwicklungschancen . In diesem Sinne birgt die Pandemie die Chance , Bildungs- und Unterstützungsstrukturen nachhaltig so zu gestalten , dass die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland nach der Pandemie besser sein wird als sie vorher war . Die Stellungnahme möchte dazu beitragen , diese Chance nicht ungenutzt zu lassen .
* Ralph Hertwig und Jutta Mata sind Sprecher und Sprecherin der Arbeitsgruppe , die die 8 . Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina zur Coronavirus-Pandemie erarbeitet hat .
Ad-hoc-Stellungnahme „ Kinder und Jugendliche in der Coronavirus-Pandemie “