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3 / 2021 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 5
gesellschaftlichen Wandel . Essenziell für den Artenschutz sind aber auch weiterhin die Ausweitung von Naturschutzgebieten und die Renaturierung von Wäldern , Mooren und Graslandökosystemen . von Braun : In der Vorbereitung zum UN-Ernährungsgipfel besteht Konsens in vielen Ländern , dass die Landwirtschaft fundamental umgestaltet werden muss . Das Thema ist in der Politik angekommen , wie man an der jüngst beschlossenen Bioquote für die Europäische Union sieht . Letztendlich geht es um naturpositive Landwirtschaft .
Katrin Böhning-Gaese ML
Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums . Die Biologin und Professorin an der Goethe- Universität Frankfurt am Main erforscht die Zusammenhänge zwischen Biodiversität und Menschen .
Foto : Michael Frank
Das sind sehr große Aufgaben . Was lässt sich individuell tun ? Böhning-Gaese : Bei einer biodiversitätsfreundlicheren Landwirtschaft sind die Erträge zumeist niedriger . Das lässt sich ausgleichen , indem wir pflanzenbasierter essen . Das bedeutet nicht , ganz auf Fleisch zu verzichten . Weidetiere sind notwendig , um artenreiche Wiesen zu erhalten . Also gerne einmal pro Woche Sonntagsbraten vom Weiderind . Auch Blühwiesen im Garten und Fassadenbegrünung helfen . Verglichen mit dem Klimaschutz ist es leichter , etwas zur Biodiversität beizutragen . von Braun : Konsumentinnen und
Konsumenten verfügen über eine große Macht in den Wertschöpfungsketten . Sie können beim Einkauf auf Labels achten , die für nachhaltige Produktion stehen . Und wer wohlhabend ist , sollte sich über Suffizienz Gedanken machen , also über die Tatsache , dass es ein Genug gibt .
Zurzeit reden alle über den Klimawandel . Wird dadurch das Thema Biodiversität vernachlässigt ? Böhning-Gaese : Der Biodiversitätsverlust ist mindestens genauso dramatisch wie die globale Erwärmung . Beide Probleme lassen sich darauf zurückführen , dass wir die Natur übermäßig nutzen . Und beide lassen sich nur mit einer großen Transformation lösen . Jüngst haben auch Weltbiodiversitätsrat und Weltklimarat die Gemeinsamkeiten betont . Ich würde mir wünschen , dass Klimawandel und Biodiversitätsverlust immer in einem Atemzug genannt werden . von Braun : Etwa 30 Prozent der Klimagase kommen durch Landnutzungsveränderungen zustande . Klimawandel und Biodiversitätsverlust sind untrennbar miteinander verbunden – als Problem , aber auch als Lösungschance . Dazu müssen die Politikstrategien der in diesem Herbst anstehenden UN-Gipfel zum Klima , zur Biodiversität und zur Welternährung verzahnt werden .
Biologische Vielfalt ist ein öffentliches Gut , sie hat keinen Marktwert . Müsste sich das ändern ? von Braun : Die indirekten Kosten des Lebensmittelsystems durch Umweltzerstörung sind genauso hoch wie der Marktwert der Lebensmittel selbst : Global werden jährlich circa neun Billionen US-Dollar für Nahrungsmittel ausgegeben und der Wert der Umweltschäden an Böden , Wasser , Klima , Biodiversität ist etwa ebenso groß . Wir brauchen eine Neubewertung von Food . Das ist auch eine ethische Frage . Böhning-Gaese : Man kann versuchen , den Wert der Biodiversität in Euro zu messen . Aber letztlich muss sich unsere Bewertung ändern . Artenreiche Umgebung wirkt sich auch auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit aus .
Da gibt es sehr starke Effekte , die wir noch gar nicht richtig erfasst haben .
Wird es klappen , Klimawandel und Artenverlust noch deutlich zu bremsen ? Böhning-Gaese : Wir haben keine andere Wahl . Wir sind die Generation , in deren Lebenszeit sich die Nutzung der Erde dramatisch beschleunigt hat . Wir haben die Verantwortung gegenzusteuern . Noch ist der Zustand reversibel : Durch Artenschutz lässt sich die Vielfalt erhalten .
Joachim von Braun ML
Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung ( ZEF ) und Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel an der Universität Bonn . Der Agrarökonom forscht zur nachhaltigen Ernährung der Weltbevölkerung .
von Braun : Das Zeitfenster dafür ist allerdings klein . Die Trendwende muss noch in diesem Jahrzehnt erfolgen . Was mich optimistisch stimmt , ist der Sinneswandel , das zunehmende Bewusstsein für Natur und für planetare Gesundheit – nicht nur in Europa . Auch der wissenschaftliche Sachstand ist heute sehr klar und wissenschaftsbasierte Politikberatung kann mehr Erfolg haben .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE ANNE BRÜNING
Jahresversammlung „ Biodiversität und die Zukunft der Vielfalt “
Foto : ZEF