GEDENKPRAKTIKEN
Die »Himmlische Hundertschaft« –
ein ukrainischer Heldenmythos
Mit den gewaltvollen Protesten im Zuge des Euromajdan etablierte sich in der
Ukraine ein moderner Heldenmythos. Anna VRUBLEVSKA analysiert die Hinter-
gründe und Formen des umstrittenen Gedenkens.
Mit ihrem Gedicht über die »Majdankrieger« eta-
blierte am 21. Februar 2014 Tetjana Domašenko
die Bezeichnung Himmlische Hundertschaft.
Am selben Tag nahmen tausende Menschen
auf dem Majdan Abschied von den im Zuge
der Proteste getöteten DemonstrantInnen. Be-
gleitet von den skandierten Rufen wie »Ruhm
der Ukraine – Ruhm den Helden« und »Helden
sterben nicht« und gemäß den militärischen Be-
gräbnisritualen mit der Nationalflagge bedeckt,
zogen die Särge durch die Menschenmenge. Die
DemonstrantInnen wurden so posthum zu hel-
denhaften SoldatInnen der ukrainischen Sache
stilisiert. In dieser Trauerzeremonie fanden sich
auch viele christliche Rituale wieder. Dieser Tag
läutete den Beginn des Majdan-Heldenmythos
ein, welcher sich im Lauf der Zeit festigen sollte.
Nach wie vor herrscht in der Ukraine enttäuschte
Stimmung wegen ungenügender Ermittlungen
zu den Todesfällen auf dem Majdan.
Vereinfachte Erinnerung
Zu HeldInnen werden ausschließlich Personen
erklärt, die auf der Seite des Siegers gekämpft
haben. Dieser für die Erschaffung eines Hel-
denmythos so typische Aspekt kann auch in der
jüngsten ukrainischen Geschichte beobachtet
werden. Eine Umfrage der Autorin von Februar
2018 hat gezeigt, dass die gestorbenen Demons-
trantInnen von den Befragten ausschließlich als
HeldInnen wahrgenommen wurden, während
ebenso gefallene Milizionäre als Täter gesehen
werden. Dabei wird ausgeblendet, dass es auch
gewalttätige Protestierende gab. Aufgrund ei-
nes eigens verabschiedeten Amnestiegesetzes
für Majdan-TeilnehmerInnen wurden diese je-
doch von jeglicher Verantwortung befreit. Die
Amnestie gilt nur in eine Richtung, betroffene
6
Sicherheitskräfte sind davon ausgeschlossen.
Keiner der GesprächspartnerInnen möchte die
Milizionäre in einer Reihe mit der Himmlischen
Hundertschaft sehen. Auch irgendeine Form der
Ehrung lehnten die Befragten ab. Wer auf ver-
schiedenen Seiten der Barrikade gekämpft hat,
scheint auch nach dem Tod unversöhnlich zu
bleiben.
Die Verehrung der Himmlischen Hundert-
schaft nimmt unterschiedliche Formen an:
Im ganzen Land wurden Straßen, öffentliche
Plätze, Alleen und Gassen umbenannt. Einen
wichtigen Erinnerungsort mit stets aktuali-
sierten Informationen bildet das Internet. Auf
literarischer, künstlerischer, musikalischer
und filmischer Ebene gewinnen Requiems an
Bedeutung. Für die Sakralisierung der gefal-
lenen DemonstrantInnen setzen sich ukraini-
sche Kirchen mit Ausnahme der Orthodoxen
Kirche Moskauer Patriarchats ein. Neben den
zahlreichen Gedenktafeln an religiösen und
öffentlichen Gebäuden entstehen Kirchen und
Kapellen, die der Himmlischen Hundertschaft
gewidmet sind. Das beliebte Kreuz-Symbol deu-
tet dabei auf die Opferbereitschaft und Stand-
festigkeit der Majdan-HeldInnen hin und stellt
eine spirituelle Verbindung zur Erlöserrolle Jesu
Christi dar. Symbolische Denkmäler sind – mit
Ausnahme des okkupierten Territoriums – über
das ganze Land verteilt. In naher Zukunft soll
auch der Majdan zum monumentalen Erinne-
rungsort umgebaut werden. Gegenstimmen
wollen jedoch die authentische Umgebung
erhalten. Bis jetzt existiert in der Ukraine nur
ein einziges Majdanmuseum, welches 2015 in
Ivano-Frankivs’k eröffnet wurde. Daneben gibt
es landesweit kleinere thematische Ausstellun-
gen in Museen und Schulgebäuden.
InfoEuropa