GEDÄCHTNIS DER STRASSE
Erinnernde Straßennamen in
Budapest und Wien
In Ungarn wie auch in Österreich nutzten die PolitikerInnen der Zwi-
schenkriegszeit (1918–1934) den gesellschaftlichen Wandel dazu, neue
HeldInnen auf den Gassen und Straßen der Hauptstädte zu verewigen.
Patrick Svensson-Jajko mit Einblicken in die Kulturgeschichte des
(Um-)Erinnerns.
Die Straßen,
Gassen und
Wege rund
um den
Achtund-
vierzi-
gerplatz
in Wien,
Penzing
erinnern an
die Opfer der
sogenann-
ten Märzre-
volution von
1848.
1918 veränderten sich die Staaten, die Städte
und die dort lebenden Gesellschaften rapide.
Der Mangel an Lebensmittel, Heizmaterial,
Unterkünften, aber auch nach dem Gefühl,
sich identifieren und orientieren zu können,
gaben schließlich Anlass, auch Straßennamen
als Mittel des politischen Kampfes zu nutzen
und politische beziehungsweise historische Er-
zählungen zu verstärken. Wien wurde von der
Hauptstadt eines monarchischen Vielvölker-
staates zu einer Hauptstadt der Republik Ös-
terreich: eine Millionenstadt mit allgemeinem
Wahlrecht für Männer und Frauen. Diese ge-
sellschaftlich gewonnene politische Freiheit be-
deutete auch, dass sich ab 1919 die erinnernden
Erzählungen im städtischen Raum veränderten.
Zeigten Straßennamen bis dahin überwiegend
die Namen von männlichen, adeligen – oftmals
mit dem habsburgischen Herrscherhaus ver-
bundenen – Persönlichkeiten, sollten es im so-
zialdemokratisch regierten Wien vor allem Per-
sonen aus Wissenschaft, Kunst und Politik sein.
Bis heute prägen jene Namen der 1920er Jahre
das Straßenbild der Hauptstadt, die überwie-
gend neu bei bis dahin unbenannten Straßen
und Gassen eingeführt wurden. So geben bei-
spielsweise immer noch die Wäscherin Margare-
te Schambor, der Student Karl Koniczek und der
Tagelöhner Lorenz Donhart – alle Gefallene der
Revolution 1848/49 – Orientierung rund um den
Achtundvierzigerplatz (Penzing). Anderorts in
Wien bildete die Wohltäterin Amalie Strecker in
der Amaliengasse zunächst aufgrund einer Ver-
wechslung mit Kaiserin Amalie Grund zur Kon-
troverse. Manche Veränderungen trafen aber
auch auf Konsens, so die Umbenennung der
Kaiser Josef Straße in Heinestraße oder der Ma-
ximiliangasse in Mahlergasse. In der Zwischen-
kriegszeit erweiterte sich der Personenkreis der
HeldInnen an den historischen Orientierungs-
punkten in Wien, die Erzählungen der Gesell-
schaft wurden komplexer. Mit vielen der neuen
Straßennamen wurde an Personen erinnert, die
noch lebten und an Ereignissen mitwirkten, die
maximal 120 Jahre zurücklagen. So stieg die
Wahrscheinlichkeit, dass sich viele Menschen
an die neuen Heldinnen und Helden erinnern
konnten.
Verlorener Glanz in Budapest
Die Herausforderungen am Ende des Krieges
prägten auch Budapest, doch die politischen
Umbrüche waren hier deutlich stärker. Der Auf-
bau einer liberalen Demokratie scheiterte nach
wenigen Wochen im Winter 1918/1919. Einige
Monate hielt sich die Räterepublik, bevor Ende
1919 das monarchische System wieder domi-
nierte. Der Kampf um Straßennamen stand im
Schatten gewalttätiger Auseinandersetzungen
in vielen Teilen Ungarns. Bevor die Umbenen-
nung des Parlamentsplatzes in den Platz der Re-
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