Interaktiv - Das Kundenmagazin des Fraunhofer IPA 3.2018 | Page 26

26 FuE interaktiv 3|2018 interaktiv 3|2018 Vision Zero: Kein einziger Arbeits unfall mehr DEKRA und Fraunhofer setzen auf Digitalisierung im Arbeitsschutz Arbeiten vielen schwer fällt, die Unfallgefahr am größten ist 27 bracht sind und für einen Nothalt sorgen. Doch sie haben und im Laufe der Woche abnimmt. Montage sind statistisch einen Nachteil: Sie werden bisweilen abgeklebt, um die Arbeit mehr als anderthalb mal so gefährlich wie Freitage. zu erleichtern. Vor allem ältere Arbeiter neigen dazu, Sicher - heitseinrichtungen trickreich zu umgehen, weil sie glauben, Bei den smarten Textilien kann das IPA auf eigene Ideen zurück - die Gefahren beherrschen zu können. Doch DEKRA-Studien in greifen. Denn eine Ausgründung des Instituts, das Tübinger den USA haben gezeigt, dass ausgerechnet die erfahrenen Unternehmen Ambiotex, entwickelt und vertreibt Shirts mit Arbeiter im Alter von 40 bis 50 Jahren besonders häufig töd- EKG-Elektroden sowie Dehnungs- und Beschleunigungs sen so - liche Unfälle erleiden. Dahinter steckt ein sehr menschliches ren, wie sie für die Überwaschung nötig sind. Sie sind zwar Phänomen: die Betriebsblindheit. Während Berufsanfänger Die DEKRA, die sich mit ihren rund 43 000 Mitarbeitern als vor allem für Sportler gedacht, die ihre Vitalwerte und Belast - penibel auf jeden Handgriff achten, arbeiten die alten Hasen Non-Profit-Unternehmen weltweit um alles kümmert, was mit barkeit stets im Blick haben wollen, doch auch der Arbeits - fast wie im Schlaf. Sicherheit zu tun hat, will die Unfallzahlen mit einem neuen schutz kann davon profitieren. Denn auch wer mit gefährlichen Ansatz senken. Sie setzt auf Hightech und hat dafür das Geräten arbeitet, sei es mit schnell laufenden Sägen, scharfen Fraunhofer IPA mit ins Boot geholt. »Mit cleveren Sicherheits - Messern oder Starkstrom, sollte körperlich fit sein. Übermüdung, »Ein intelligenter Handschuh stoppt eine gefährliche Maschine, lösungen wollen wir dazu beitragen, die ›Vision Zero‹ – also das weiß jeder Autofahrer, schränkt die Reaktionsfähigkeit wenn die Hand ihr zu nahe kommt.« die völlige Vermeidung von Arbeitsunfällen – zu realisieren«, erheblich ein. Auch Fieber schwächt die Leistungsfähigkeit. sagt DEKRA-Vorstand Ivo Rauh zu den Zielen der Innova tions - Smarte Unterwäsche, die ihre Daten kabellos weiterleitet, partnerschaft. Zudem gehe es darum, den Arbeitsschutz der kann eine solche kritische körperliche Verfassung aufspüren. immer stärker automatisierten Industrie anzupassen. Denn die So ist ein plötzlicher Abfall der Herzfrequenz ein Warnsignal: Neurowissenschaftler kümmern sich um die Tücken des men sch - Zusammenarbeit von Mensch und Roboter erfordert neue Es kann ein Hinweis auf eine schlagartig einsetzende Müdig - lichen Gehirns, um solche Unfallrisiken aufzuspüren. Sie wis- Lösungen. Wie stark die Digitalisierung auch in der Sicher - keit sein. Die gewonnenen Daten lassen sich auch als Zu gangs - sen inzwischen, dass ständige Wiederholungen dazu führen, heitsbranche bereits Fuß gefasst hat, zeigt sich daran, dass kontrolle nutzen: »Wer Puls 130 hat, darf erst gar nicht auf dass der Mensch abstumpft und die Situation gar nicht mehr DEKRA in diesem Jahr mehr als 150 Millionen Euro in die digi- die Baustelle«, sagt Schneider. wahrnimmt. Um gegenzusteuern, muss man die Routinen Eine andere Anwendung, die IPA-Experten schon im März 2017 werke die Monitore immer wieder neu positioniert. Die Sen - durchbrechen. So werden in den Schaltzentralen großer Kraft - tale Sicherheit gesteckt hat, fast 5 Prozent ihres Umsatzes. Wenn es um die Sicherheit am Arbeitsplatz geht, sind Unter - FuE Der Hintergrund für die Initiative ist, dass es mit den etablier- auf der »Safety in Action Conference« in Chicago vorgestellt soren, die IPA nun einsetzten will, machen die Erkenntnisse ten Methoden nicht gelungen ist, Unfälle ganz zu vermeiden haben, zielt darauf ab, Unfälle selbst dann noch abzuwenden, der Neurowissenschaft messbar und überprüfbar. nehmen an strenge Regeln gebunden. Das Arbeitsschutz gesetz oder die Zahlen zumindest stark zu reduzieren. Bisher folgen wenn sie sich schon anbahnen. Das ist bisher nicht möglich schreibt seit 1996 vor, was sie für die Unfallverhütung zu be - die Unternehmen einem analogen Ansatz: Experten, meist gewesen. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass 10 bis 12 Pro - Natürlich kann man die neuen Werkzeuge nicht im Labor achten haben, und die Berufsgenossenschaften helfen bei der von externen Einrichtungen, beobachten Arbeiter im Alltag, zent der tödlichen Unfälle harmlos beginnen: mit einem Stol - testen – man muss in den praktischen Berufsalltag gehen. Einhaltung. Deutschland gilt in dieser Hinsicht als vorbildlich um unfallträchtige Situationen zu identifizieren, und analysie- pern oder Rutschen. Steht ein gefährliches Gerät in der Nähe, Geplant sind zunächst Studien in ausgewählten Betrieben, und hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht: ren Unfälle. Mithilfe der Ergebnisse modernisieren sie die etwa eine Bandsäge oder ein Starkstromaggregat, kann das wahrscheinlich in den USA, die nach Ansicht von Schneider Zählte die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) Sicherheitstechnik, erarbeiten Vorgaben für das richtige Ver - Straucheln böse enden. Die Gruppe um Schneider hat nun ein mindestens ein Jahr dauern werden. Sie sind auf den jeweiligen 1992 noch rund 1,9 Millionen Unfälle mit 1443 Toten, so halten der Mitarbeiter und erstellen eine Art Checkliste, die kleines Gerät entwickelt, das am Schuh getragen wird. Mit Betrieb zugeschnitten, denn auf einer Ölplattform lauern an - waren es 2016 nur noch halb so viele Unfälle und 424 Tote. jede gefährdete Person – ähnlich wie ein Pilot – vor Arbeits - seinen Beschleunigungssensoren und einer entsprechenden dere Gefahren als in einem Schlachthof oder einem Güter - Doch die Zahlen sind noch immer zu hoch, und in anderen antritt abarbeiten muss. Doch selbst große Unter nehmen, die Software erkennt es ein Stolpern oder Rutschen. Und es sen- bahnhof. Die gesammelten Daten sollen zeigen, ob die digitale Teilen der Welt lebt man sogar noch viel gefährlicher. Nach penibel auf die Einhaltung aller Vorschriften achten, müssen det sofort drahtlos ein Signal an die Maschine, die sich unver- Herangehensweise Vorteile gegenüber der klassischen Methode Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ereig- noch immer Unfälle mit Verletzten und Toten hinnehmen. züglich ausschaltet – die Gefahr ist gebannt. Solche Tools eig- hat. Letztlich ist es dadurch nicht einmal mehr nötig, dass ein neten sich 2015 weltweit 313 Millionen Arbeitsunfälle mit 2,3 Hier setzt das innovative Vorgehen an, das DEKRA und IPA nen sich für viele Anwendungen, etwa für Fleischer, die im Sicherheitsfachmann die Arbeiter – stichprobenartig – auf Schritt Millionen Toten, wobei die Dunkelziffer in den Entwicklungs - nun anstreben. Es setzt auf Digitalisierung und auf Sensoren, Akkord Tierkörper zerteilen. In den USA benutzen die Arbeiter und Tritt beobachtet, um Sicherheitslücken aufzuspüren. Im ländern hoch ist. Das bedeutet: Tag für Tag sterben minde- die ohnehin in vielen Maschinen stecken, die aber auch am dafür schnell rotierende Einhand-Kreissägen, die im Nu schwere digitalen Zeitalter genügt ein Blick auf die Monitore, die über- stens 6400 Menschen am Arbeitsplatz. Gefährdet sind vor Körper getragen werden sollen. »Da steckt Potenzial drin«, ist Verletzungen verursachen können. allem Menschen mit riskanten Tätigkeiten wie Fensterputzer, Mediziner Urs Schneider überzeugt, der für das Fraunhofer dies viel umfangreicher informieren. Denn die Sensoren sen- den rund um die Uhr. Forstarbeiter oder Hochspannungsmonteure. Auch wer mit IPA die Kooperation leitet. Zu den innovativen Maßnahmen Eine andere Möglichkeit, »einem Unfall vorzubeugen«, wie Öl, Gas oder giftigen Chemikalien hantiert, gehört zu den gehört etwa intelligente Kleidung, die anzeigt, ob ein Arbeiter Schneider weiß, ist ein intelligenter Handschuh. Drahtlos ver- Kontakt n Risikopersonen. Aber sogar Berufssparten, die als sicher gel- übermüdet oder übermäßig gestresst ist. Denn die Psyche und bunden, stoppt er eine gefährliche Maschine oder schaltet Dr. med. Urs Schneider ten, bleiben nicht von Unfällen verschont, ob in der Fabrik die körperliche Verfassung spielen bei Unfällen eine wichtige den Strom ab, wenn die Hand ihr zu nahe kommt. Zwar gibt Telefon +49 711 970-3630 oder im Büro. Rolle. Das zeigt sich schon daran, dass montags, wenn das es schon heute optische Sensoren, die an der Maschine ange- [email protected]