Interaktiv - Das Kundenmagazin des Fraunhofer IPA 3.2016 | Page 16

16 Interview interaktiv 3|2016 interaktiv 3|2016 Interview Der Bewegungsapparat ist bei denen, die noch berufstätig »In keiner anderen Branche wird Industrie 4.0 so einen Impact haben wie im Gesundheitswesen.« Industrie 4.0 verstanden wird, einen so enormen Impact haben sind, vermehrt in Gefahr oder bereits geschädigt. Gleiches Andreas Traube wie im Gesundheitswesen. 17 gilt für Menschen im Ruhestand. Das wirkt sich in unserem Das heißt, die Gesundheits- und Pharmabranche muss disruptiv Institut auf die Medizintechnikentwicklung und -forschung im Bereich der Pflege und Assistenz aus, und zwar sowohl auf die Das bringt uns zum fünften Blickpunkt, der personalisierten Person, die gepflegt wird, als auch auf die Person, die pflegt. Medizin. denken und handeln? Andreas Traube: Ja, das muss sie und das tut sie auch. Denn Unser Beitrag bezieht sich hier auf die Erforschung und Entwicklung technischer Lösungen zur Unterstützung selbst- Dr. Urs Schneider: Wenn wir uns vor Augen führen, dass durch die Branche wird auf die neuen Themen aufmerksam. In Zu- ständigen Lebens, sprich Autonomie älterer Menschen, und weniger Beitragszahler weniger Geld für Behandlungen zur kunft könnte sich der Konsument therapeutische Fakten aus zur Übernahme schwerer Arbeiten, die beim Pflegepersonal Verfügung steht, die Behandlungsqualität jedoch auf mindes- der Cloud herunterladen und Experimente, die er für die Zu- wegfallen würden. tens dem gleichem Niveau bleiben soll, dann gibt es nur die lassung braucht, hochladen. Nach der Zulassung erfolgt die eine Lösung, dass Behandlungen individueller werden müssen. eigentliche Herstellung dann über eine Contract-Manufactu- Ein weiterer Fokus liegt auf beschleunigter Diagnostik und Und wenn man individuell behandeln will, dann muss man ring-Organisation, kurz CMO. In diesem Geschäftsmodell sich sicher sein, dass dieser individuelle Weg auch der richtige kommt die Pharmaindustrie gar nicht mehr drin vor. neuen OP-Techniken. ist. Behandlungen werden dann immer mehr auf Statistik und »Die Revolution besteht darin, an der Quelle Daten erheben zu können.« Andreas Traube Verlagert sich durch die neuen Einblicke und das Verständnis Dr. Urs Schneider: Zu den Themen kann ich sagen, dass wir in Fakten beruhen. Wenn Frau Mustermann keine Therapie für Dr. Urs Schneider: Ich erinnere mich an einen konkreten Fall Mannheim und Stuttgart neue Ansätze testen, um Abläufe in 8000 Euro, sondern eben nur für 2000 Euro bekommt, die im Jahr 2013, als ich zusammen mit unserem Kooperations- Krankenhäusern und Kliniken sicherer, schneller und qualitäts- dann auch noch wirkungsvoller ist, dann lassen sich 6000 partner in Minneapolis in der VA-Klinik vor einem Patienten, dokumentierter zu machen. Denn je schneller ein definierter Euro fürs Gesundheitssystem sparen. Das heißt, die Medizin einem Australier, saß, der sich auf eigenen Wunsch hin ein Arbeitsprozess läuft, umso geringer sind die Infrastruktur- muss mit Studien gleichziehen, Therapiefunktionsnachweise Implantat einsetzen ließ. Er hatte sich bei Ebay Armkompo- kosten. Stichwort OP-Minute. Auch hier gibt es Beispiele, die erbringen und immer faktengestützter, immer evidenter wer- nenten gekauft und kam damit nach Minneapolis und sagte: zeigen, dass unsere Forschungsarbeit lange Tradition hat. So den, dann wird sie auch bezahlbarer und transparenter für die Von euch bekomme ich nun den Zusammenbau, therapeu- haben wir bereits vor über zehn Jahren in Pionierarbeit ein Kostenentscheider. tisch fachgerecht und individuell für mich. So sieht morgen in die Zusammenhänge der Medizin die Therapie immer mehr OP-Robotersystem, den sogenannten Schädelbohrer, gebaut von der reinen Bekämpfung der Symptome hin zu einer ziel- und in realer Klinikumgebung getestet. Zweites Beispiel: Zu- gerichteten Bekämpfung? ein mündiger Patient aus. Andreas Traube: Die Revolution besteht aus meiner Sicht pri- sammen mit der Firma S. u. A. Martin mit Sitz in Rietheim- mär darin, dass, aus der Biotechnologie kommend, wir nicht Das Fraunhofer IPA entwickelt auch neue Automatisierungs- Weilheim entwickelten wir eine sichere und schnellere Wirbel- mehr auf irgendwelche Metadaten oder Metasichtweisen über strategien und Schlüsseltechnologien für die Herstellung von Andreas Traube: Exakt. Das ist ganz klar das Ziel. Gerade bei säulenzange für Bandscheibenoperationen, die aktuell in den Patienten angewiesen sind, sondern direkt an der Quelle Daten Zelltherapeutika. Ist das ein weiteres Schwerpunktthema bei komplexen Erkrankungen, deren Behandlungen sehr teuer USA auf den Markt kommt. erheben können. Ihnen? Und wenn ja, warum? Zu den Highlights zählt zweifelsohne auch der Forschungs- Ziel der Forschung des Fraunhofer IPA ist es, bei produzieren- Andreas Traube: Einerseits, weil es unsere Kunden wollen. toide Arthritis und Antikörpertherapien. Letztere sind nur in campus Mannheim Molecular Intervention Environment den Unternehmen die Effizienz der Produktion und den damit Andererseits, weil der Markt dafür gerade entsteht. Wirksam- wenigen Fällen wirksam, kosten jedoch extrem viel. Und (M2OLIE). Unsere Projektgruppe für Automatisierung in der verbundenen Durchsatz zu erhöhen sowie die Kosten bei gleich- keitsstudien zu dem Thema sehen sehr vielversprechend aus. genau das belastet heutzutage das Gesundheitssystem. Medizin und Biotechnologie PAMB arbeitet dort zusammen bleibender Qualit ät zu senken. Klingt gut, doch wo stehen wir Und drittens, weil wir es können. Es gibt genügend Belege für mit anderen Forschungspartnern daran, Tumorerkrankungen heute tatsächlich in den entsprechenden Branchen des Gesund- unsere Erfahrung in diesem Bereich. Dr. Urs Schneider: Ein wichtiger Aspekt ist, dass man spezifi- in einem Kreislaufprozess an einem Vormittag diagnostizieren heitsmarkts? scher diagnostizieren und damit auch spezifischer behandeln und therapieren zu können. sind und die Krankenkassen belasten, soll dieser Mechanismus Anwendung finden. Um zwei Beispiele zu nennen: rheuma- kann, vor allem in der frühen Phase einer Erkrankung. Andreas Traube: Es geht immer um die Frage der Wirtschaft- Dr. Urs Schneider: Generell besteht unsere Aufgabe in der Andreas Traube: Neue biotechnologische Therapieansätze auf Beratung, in der Erstellung neuer Konzepte, in Machbarkeits- Basis von Zellen stehen derzeit an der Schwelle, alte Medika- studien und darin, Forschungsimpulse in Lehre und Fachgremien, Fünf Schwerpunkte haben Sie am Fraunhofer IPA im Geschäfts- lichkeit. Aktuell wird darüber diskutiert, ob das Konstrukt mente insbesondere zur Behandlung von Krebs nachhaltig zu bei Diskussionen und Konferenzen zu setzen – sowohl natio- feld Medizin- und Biotechnik definiert: personalisierte Medizin, Krankenhaus/Klinik, wie es heute existiert, in Zukunft über- ergänzen, eventuell sogar teilweise zu ersetzen. Zur Herstel- nal als auch international. Wir begleiten Unternehmen dabei, beschleunigte Diagnostik, neue OP-Techniken, Lebensqualität haupt noch lebensfähig ist. Die Überlegungen gehen hier von lung arbeitet die Industrie aktuell auf riesengroßen Reinraum- die nächsten Schritte zu tun. bis ins hohe Alter sowie Entlastung von Pflegepersonal. effizient und dezentral bis hin zu spezialisiert und zentral. feldern manuell mit geringen Durchsätzen, die in Sachen Pro- Warum sehen Sie genau darin Potenzial? Diagnostik-Labors, die als Externe ihre Dienste leisten, könn- duktionstechnik noch in keiner Weise optimiert sind. Eine ein- ten demnach wieder ins Krankenhaus zurückkehren. Oder zelne Produktionsmaschine hat eine Taktzeit von drei Wochen. Dr. Urs Schneider: Nehmen wir die beiden letzten Punkte. wenn wir immer spezifischer behandeln, wird es mit der Zeit Das ist alles nicht effizient und flexibel gedacht. Und jetzt Fakt ist: Mit unserer alternden Gesellschaft nimmt die Rate immer differenziertere Therapien geben. Die Ansprüche der kommt genau das zusammen, was in anderen Industrien an chronischen Erkrankungen zu. Allein 50 Prozent der chro- Patienten steigen und die Kliniken müssen sich immer mehr üblich ist. Flexibilisierung, Geschwindigkeit, Effizienz und Digi- nischen Erkrankungen sind muskuloskelettaler Natur. spezialisieren. Das ist dann Chance und Chaos in einem. talisierung. In keiner anderen Branche wird alles, was unter n »Wir begleiten Unternehmen dabei, die nächsten Schritte zu tun.« Dr. Urs Schneider