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Zur Person
sich die normalen Arbeitnehmenden im gleichen Zeitraum mit 4,3 Prozent mehr Lohn zufriedengeben mussten . Dass in einer Demokratie die Stimmberechtigten einer Abzocker- Initiative zustimmen , verwundert nicht . Leider wirkt sie nicht wie gewünscht . Die Schweizer Wirtschaft wird oft für soziale und für ökologische Probleme verantwortlich gemacht . Hat sich diese Einstellung in den letzten Jahren verschärft ? Ich glaube , diese Einstellung richtet sich nicht generell gegen die Schweizer Wirtschaft , sondern zeigt das gesteigerte Bewusstsein für unsere Umwelt und unser Klima . Die Wirtschaft hat einen grossen Einfluss und kann einen grossen Beitrag zur Lösung der Umweltprobleme leisten . Mit den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten erfahren wir viel mehr über die Tätigkeiten der Unternehmen im Ausland . Ausbeutung , Umweltsünden und so weiter werden heute schneller entdeckt . Hier sollen die Schweizer Unternehmen ihre Verantwortung wahrnehmen . Diese Erwartung hat sich bei der Konzernverantwortungsinitiative deutlich gezeigt . Der wirtschaftliche Erfolg darf nicht über alles gestellt werden . Seit 1 . Juli 2020 ist das revidierte Gleichstellungsgesetz in Kraft getreten . Sie sprechen allerdings von einer Alibiübung . Warum ? Frauen werden beim Lohn um rund 7,7 Milliarden . Franken pro Jahr diskriminiert . Das Gesetz wird allerdings daran nicht viel ändern können , weil es keine grosse Wirkung hat und lange Fristen einräumt . Daneben gibt es drei weitere gravierende Mängel , welche die Revision zu einer eigentlichen Alibiübung verkommen lassen . Erstens sind keine Kontrollen zur Einhaltung des Gesetzes vorgesehen . Zweitens erfolgen bei Verstössen gegen die Lohngleichheit keine Sanktionen . Und drittens wurde der Geltungsbereich des Gesetzes zu stark eingeschränkt , weil nur Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitenden eine Lohngleichheits-

« Das Arbeitsplatz- Argument funktioniert nicht mehr .»

ADRIAN WÜTHRICH

analyse durchführen müssen ( der Bundesrat schlug eine Grenze von 50 Mitarbeitenden vor ). Wo steht die Schweizer Wirtschaft in diesen Thesen ? Viele Rahmenbedingungen sind sehr gut . Verbesserungspotenzial sehe ich beim Stress , bei der Weiterbildung und bei der Vereinbarkeit . Im Barometer Gute Arbeit erhält das Stressempfinden immer den schlechtesten Wert . Die Arbeitnehmenden sollen immer mehr leisten . Hier machen sich die gute Wirtschaftslage und die Corona-Ausfälle bemerkbar . Burnouts sind die Spitze des Eisbergs . Die Schwierigkeiten des Milizsystems sind ein weiterer Ausfluss davon . Viele Arbeitnehmende bilden sich nicht weiter .
HANDOUT
Die Unternehmen können hier entscheidend Einfluss nehmen , damit das lebenslange Lernen in die Praxis umgesetzt wird . Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ein weiterer Punkt , den wir gemeinsam verbessern müssen . Berufstätige Eltern oder betreuende Angehörige gehen eher einer bezahlten Arbeit nach , wenn die Kinder oder die zu betreuenden Angehörigen professionell betreut werden können oder flexible Arbeitsmodelle wie Teilzeit angeboten werden . Wie tönt für Sie der Slogan « Wir alle sind die Wirtschaft »? Der Slogan stimmt . Wenn der Bundesrat « die Wirtschaft » sprechen will , lädt er immer die Dachverbände der Arbeitgebenden und der Arbeitnehmenden ein . Der Slogan muss aber auch gelebt werden . Der « Proof of the pudding » zeigt sich bei der Sozialpartnerschaft generell und bei der Lohnentwicklung mit einer fairen Aufteilung der Gewinne im Speziellen .

Zur Person

Adrian Wüthrich ist Präsident und Geschäftsleiter von Travail . Suisse , dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden und der zweitgrössten Dachorganisation der Arbeitnehmenden in der Schweiz . Er studierte an der Universität Bern Betriebswirtschaft , Public Management sowie Politikwissenschaft und schloss mit einem Master in Public Management und Politik ab . Adrian Wüthrich war von 2010 bis 2018 Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern . Am 29 . Mai 2018 rückte er auf seinen verstorbenen Parteikollegen Alexander Tschäppät in den Nationalrat nach . Die SP verlor jedoch bei den Nationalratswahlen am 20 . Oktober 2019 zwei Sitze , weshalb Wüthrich die Wiederwahl nicht schaffte .